„Es gibt keinen Anlass, die älteren Menschen zu beschimpfen“
Der „Herbst der Reformen“, ausgerufen vom Kanzler, hat begonnen. Dass die Sozialsysteme, vor allem die Rente, dringend verändert werden müssen, ist unbestritten. Die Situation erinnert Eva Maria Welskop-Deffaa an eine frühe Grundsatzentscheidung in der Rentenversicherung. Heute könnten reißerische Vorschläge die nötigen Reformen bremsen, fürchtet die Präsidentin des Deutschen Caritasverbands.
WELT AM SONNTAG: Frau Welskop-Deffaa, Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) sagt, wir könnten uns den Sozialstaat in dieser Form nicht mehr leisten. SPD-Chefin Bärbel Bas nennt das „Bullshit“. Wer hat recht?
Eva Maria Welskop-Deffaa: Beide sollten darauf achten, die sehr emotional geführte Debatte nicht weiter anzuheizen. Der Sozialstaat ist zu wertvoll, um in so einer Diskussion unter die Räder zu kommen – zumal die Opposition nur darauf lauert, Bruchstellen auszunutzen. Wir brauchen kluge Reformschritte. Die demografischen Kipppunkte rücken unübersehbar näher. Darüber reden wir seit Jahren, jetzt braucht es Antworten. Die können nur im Miteinander der Generationen gelingen. Deswegen sollte man als Politiker vorsichtig sein mit Ankündigungen und Beschimpfungen.
WAMS: Brauchen wir eher einen Herbst der Reformen oder eine Agenda 2030?
Welskop-Deffaa: Wenn ich wählen muss, dann die Agenda 2030. Der Herbst der Reformen weckt die Erwartung, man könne in diesem Herbst alles bewältigen. Das ist nicht möglich. Die Reformen müssen an vielen Stellschrauben zugleich ansetzen, wir wünschen uns ordentliche Gesetzgebungs- und Beteiligungsverfahren. Zudem hat die Bundesregierung selbst mehrere Kommissionen eingesetzt, deren Ergebnisse erst Ende des Jahres oder Anfang nächsten Jahres vorliegen werden. Den Herbst der Reformen dann noch mit Vokabeln wie „Kahlschlag“ zu verbinden, weckt nur Ängste.
WAMS: Agenda 2030 klingt aber auch drastisch, so wie einst die Agenda 2010.
Welskop-Deffaa: Für mich klingt Agenda 2030 nach einem Programm mit einem vernünftigen Vorlauf. Ansonsten scheint mir die Analogie zu den Hartz-Reformen unpassend. Damals stand der Arbeitsmarkt im Mittelpunkt. Jetzt geht es um den Sozialstaat als Ganzes und das Generationenverhältnis. Wir sind in einer Situation wie in den 50er-Jahren: Damals musste Konrad Adenauer die Beziehungen zwischen den Generationen klären, die Alten drohten in der Wirtschaftswunderzeit vom Wohlstand abgehängt zu werden, weil ihre Renten nicht dynamisiert waren. Er hätte 1957 die Wahl verloren, wenn er das Thema nicht angepackt hätte.
WAMS: Heute funktioniert das System für die Jüngeren aber nicht mehr.
Welskop-Deffaa: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat zu Recht gesagt: Wir sollten nicht stereotypisieren zwischen Alt und Jung. Es geht darum, Menschen mit ihren vielfältigen Lebensläufen wahrzunehmen und dabei Bruchlinien zwischen den Generationen zu vermeiden. Wir müssen den Jüngeren glaubwürdig vermitteln, dass wir den Sozialstaat mit ihnen und für sie in die Zukunft führen wollen.
WAMS: Die Arbeit daran hat die Regierung in Kommissionen ausgelagert. Ist das zielführend, speziell die Sozialstaatskommission?
Welskop-Deffaa: Die Vielzahl der Kommissionen mit kleinteiligen Aufträgen sehe ich kritisch. Gerade die Sozialstaatskommission springt zu kurz, wenn sie sich nur auf die steuerfinanzierten Transferleistungen konzentriert. Unser Sozialstaat beruht auf dem Dreiklang von steuerfinanzierten Transfers, beitragsbasierten Sozialleistungen und einer ausgebauten sozialen Infrastruktur. Wer sie isoliert betrachtet, kommt bei der Sozialstaatsmodernisierung nicht weiter. Was die Bürger als bürokratische Tortur erleben, ist vor allem der Komplexität des Systems an den Schnittstellen geschuldet.
WAMS: Wie würden Sie das System besser und bezahlbarer machen?
Welskop-Deffaa: Der erste Schritt muss sein, die Sozialversicherungssysteme nachhaltig zu stabilisieren. Mit ihren Beiträgen sichern sich die Bürgerinnen und Bürger gegen Lebensrisiken ab, die jeden treffen können. So ist zu verhindern, dass die steuerfinanzierten Transfers in die Höhe schießen. Nur 2,9 Prozent der Bezieher der gesetzlichen Rente sind auf Grundsicherung angewiesen. Das heißt: Unsere Sozialversicherung verhindert Altersarmut. Deswegen wollen wir die Selbstständigen in die gesetzliche Sozialversicherung einbeziehen. Sonst landen Menschen mit gemischten Erwerbsbiografien im Alter schnell in der Armutsfalle.
Das Missverständnis beim Umlageverfahren
WAMS: Aber die Umlagefinanzierung kommt doch trotzdem an ihre Grenzen, weil immer weniger Beitragszahler auf mehr Rentner kommen.
Welskop-Deffaa: Sie funktioniert, wenn man von ihr nicht mehr erwartet, als sie leisten kann. Die Umlagefinanzierung ist keine Kapitalanlage. Man erwirbt mit seinen Beiträgen keinen Anspruch auf eine Rente in einer absoluten Höhe, sondern einen Anteil an dem, was zur Verfügung steht. Das Missverständnis, man habe mit seinen Rentenversicherungsbeiträgen Geld auf die hohe Kante gelegt, ist leider weit verbreitet. Die Vorschläge der Bundesregierung zur Aktivrente nähren dieses Missverständnis und setzen völlig falsche Signale.
WAMS: Was stört Sie daran, dass Rentner steuerfrei Geld dazuverdienen können, wie es die Bundesregierung beschlossen hat?
Welskop-Deffaa: Die Aktivrente ist mit etwa drei Milliarden Euro ein sehr teures Steuergeschenk für gut situierte Boomer. Es ist bereits jetzt so, dass Rentner bis zu 48.000 Euro pro Jahr hinzuverdienen können, ohne Kürzungen ihrer Rente hinnehmen zu müssen – eine sehr großzügige Regelung, wenn man davon ausgeht, dass die Rente eine Lohnersatzleistung für eine Lebensphase ist, in der ich nicht mehr in der Lage bin, meine Existenz durch eigene Arbeit zu sichern. Die Aktivrente stärkt die Anspruchshaltung gegenüber der Sozialversicherung, und sie ist unglaublich ungerecht. Wenn sich ein rüstiger Akademiker mit guter Rente entscheidet, nebenher noch 2000 Euro zu verdienen, muss er keine Steuern bezahlen. Eine Pflegekraft hingegen, die mit drei Kindern ihre Stelle etwas aufstockt, wenn die Kinder in der Tagesbetreuung gut versorgt sind, muss jeden zusätzlichen Euro voll versteuern. Das kann nicht richtig sein.
WAMS: Die Berater von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) schlagen größere Rentenabschläge vor, wenn jemand vorzeitig in den Ruhestand geht. Erreicht man so, dass die Bürger länger arbeiten?
Welskop-Deffaa: Die Entscheidung, länger zu arbeiten, hängt nicht von Abschlägen oder Steuerfreiheit ab. Sie hängt damit zusammen, ob man die sozialen Kontakte wertschätzt, die Arbeit als sinnstiftend empfindet und gesundheitlich noch fit genug ist. Es stabilisiert natürlich das System, wenn länger Beiträge in die Rentenversicherung bezahlt werden, ebenso wie es hilft, wenn Großeltern durch die Betreuung der Enkel die Erwerbstätigkeit ihrer Kinder erleichtern oder wenn Senioren Pflegeleistungen für ältere Angehörige übernehmen.
WAMS: Diese Leistungen will DIW-Chef Marcel Fratzscher mit einem Pflichtjahr für Boomer zum Renteneintritt formalisieren. Geht das in die richtige Richtung?
Welskop-Deffaa: Nein. Diese Vorschläge sind reißerisch und faktisch nicht umsetzbar. Sie führen zu Verletzungen und Verhärtungen, die es schwerer machen, zu Lösungen zu kommen. In unseren Einrichtungen sind es gerade die Älteren, die überproportional die familienunfreundlichen Schichten übernehmen, damit „der Laden läuft“. Ihnen danach Pflichtjahre abzuverlangen, vergiftet die Debatte.
WAMS: Fratzscher sagt, die Boomer hätten die Friedensdividende verfrühstückt und müssten nun etwas an die Jüngeren abgeben. Stimmt das nicht?
Welskop-Deffaa: Ich finde diese Tonlage hochproblematisch. Natürlich haben wir Boomer in unserem Leben nicht alles richtig gemacht. Aber es gibt keinen Anlass, die älteren Menschen zu beschimpfen. Es ist der Eindruck entstanden, ihnen solle zwangsweise etwas weggenommen werden. Das hat die Debatte vergiftet.
WAMS: Sie haben in einem Vortrag kürzlich gesagt, ein christlich geprägter Sozialstaat sei in einer säkularen Welt verletzlich. Verliert er an Halt, weil weniger Menschen religiös sind?
Welskop-Deffaa: Ja. Unser Sozialstaat beruht auf kulturellen Voraussetzungen, die heute nicht mehr selbstverständlich sind. Christen haben wesentlich zu seinen Wertegrundlagen beigetragen. Heute sind noch rund 50 Prozent der Deutschen Mitglied einer christlichen Kirche, und sie bleiben es, weil diese sich für Arme und soziale Gerechtigkeit einsetzt. Für die Plausibilität unseres Sozialstaats ist es womöglich unverzichtbar, dass Menschen die Erfahrung machen, dass es um sie herum uneigennütziges Engagement für den Nächsten gibt. Wenn man solch eine Kultur der Solidarität nicht mehr erfährt, dann verändert sich das Bild von den Menschen und man verliert die Hoffnung. Es bleibt dann ein rein ökonomischer Blick auf den Sozialstaat – der allein kann ihn aber nicht absichern.
Vollkasko-Leistungen versprochen?
WAMS: Politiker sprechen oft auch von persönlichen Ansprüchen statt von christlicher Solidarität.
Welskop-Deffaa: Das ärgert mich. Es gibt Politiker, die den Bürgern Vollkasko-Mentalität vorwerfen – und die vor jeder Wahl selbst Vollkasko-Leistungen versprechen, auch ohne sie nachhaltig finanzieren zu können.
WAMS: Die Politik verspricht, dass es keine Einschnitte geben werde. Gleichzeitig wachsen der Kostendruck durch die Demografie und der Druck durch Populisten, die noch mehr versprechen. Gibt es da einen Ausweg?
Welskop-Deffaa: Das glaube ich ganz sicher. Der demografische Wandel bringt höhere Kosten für die Sozialversicherungen mit sich, egal ob in der Rente, Pflege oder Gesundheit. Deswegen müssen die Generationen zusammen vernünftige Lösungen entwickeln. Dabei sollte man keine angstbesetzten Begriffe wie „Einschnitte“ verwenden. Sobald die Menschen Angst haben, verlieren sie das Vertrauen in die Institutionen. Dann haben die Populisten gewonnen. Unsere Institutionen funktionieren, sie sichern uns gegen Lebensrisiken ab. Natürlich müssen die Systeme angepasst werden. Die dringendste Anpassung braucht aus meiner Sicht die Pflegeversicherung.
WAMS: Ein Heimplatz kostet fast 3000 Euro im Monat, dafür reicht eine normale Rente nicht. Ist das System noch zu retten?
Welskop-Deffaa: Die durchschnittliche Verweildauer im Heim liegt bei unter sechs Monaten, außer bei Demenz. Wer arm ist, bekommt staatliche Hilfe. Viele Rentner haben aber 12.000 Euro angespart. Die älteren Menschen tun sich jedoch sehr schwer, das Häuschen, das sie als Absicherung fürs Alter erworben haben, dann wirklich zu verkaufen. Oft geht das auch praktisch nur schwer, weil der Ehepartner noch darin wohnt. Bei der Pflegeversicherung ging es immer um eine Teilleistung, das haben die Menschen vergessen.
Daniel Zwick ist Wirtschaftsredakteur in Berlin und berichtet für WELT über Wirtschafts- und Energiepolitik, Digitalisierung und Staatsmodernisierung.
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