Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) ließ bei der Vorstellung der Konjunkturprognose der Bundesregierung keine Zweifel, wie die erwarteten Wachstumsraten von 1,3 Prozent im nächsten und 1,4 Prozent im übernächsten Jahr einzuordnen sind. „Ein erheblicher Teil des Wachstums in den kommenden Jahren wird voraussichtlich aus hohen staatlichen Ausgaben – etwa dem Sondervermögen und den Verteidigungsinvestitionen – stammen“, sagte sie.

Damit erklärte die streitlustigste Ministerin im Kabinett von Friedrich Merz (CDU) nichts anderes, als dass sich die Bundesregierung mithilfe von Rekordschulden ihren eigenen Aufschwung schafft. Das Geld fließe in den Erhalt von Straßen und Brücken, bringe die deutsche Wirtschaft aber insgesamt kaum weiter, sagte sie und ließ den entscheidenden Satz folgen: „Es ist kein Potenzialwachstum.“

Diese Aussage wird man auch bei der Europäischen Kommission ungern hören. Denn wenn es der schwarz-roten Koalition in ihrer Amtszeit nicht gelingt, das Potenzialwachstum deutlich zu steigern, dann droht das wackelige Schuldengebäude, das Berlin gebaut hat, in sich zusammenzufallen. Das hatte der Stabilitätsrat erst am Vortag deutlich gemacht. Der Rat ist ein Gremium des Bundes und der Länder, das über die deutschen Staatsfinanzen wacht.

Um das Wachstumspotenzial zu verbessern, braucht es mehr Arbeitskräfte, mehr technischen Fortschritt und mehr ausländisches Kapital. Ausländische Investoren werden aber nur dann mehr hierzulande investieren, wenn die Produktionsbedingungen günstiger sind. Aus Sicht von Ministerin Reiche braucht es dafür vor allem eines: „Wir müssen den Reformstau auflösen.“

In ihrer Herbstprojektion genannten Konjunkturprognose geht die aktuelle Bundesregierung selbst nicht davon aus, dass ihr das während ihrer Amtszeit gelingt. Das erwartete Produktionspotenzial der nächsten Jahre liegt im Oktober nur geringfügig höher als in der Projektion aus dem April, als offiziell noch die Minderheitsregierung von Rot-Grün das Land führte: Die Merz-Regierung geht für 2026 von 0,5 Prozent Potenzialwachstum aus, für 2027 bis 2030 von jährlich 0,6 Prozent.

Vereinfacht gesagt: Geht das tatsächliche Wachstum darüber hinaus, ist dies im Wesentlichen auf die gewaltigen Sonderkredite für Infrastruktur, Klimaschutz und Verteidigung zurückzuführen. Oder noch anders ausgedrückt: Die Staatsausgaben in Rekordhöhe sind in den kommenden beiden Jahren für 0,8 Prozentpunkte des Wirtschaftswachstums zuständig und damit für mehr als die Hälfte.

Noch in den 2010er-Jahren lag das Produktionspotenzial mit bis zu 1,6 Prozent um einen Prozentpunkt höher, in den frühen 1990er-Jahren waren es zeitweise sogar mehr als drei Prozent. Friedrich Merz hatte zu Beginn seiner Kanzlerschaft das Ziel ausgegeben, wieder ein Wachstum des Produktionspotenzials von zwei Prozent zu erreichen.

Dies ist mit Blick auf die wackeligen Staatsfinanzen dringend notwendig. „Damit Deutschland eine stabile Position erreicht, ist eine deutlich höhere Wachstumsgeschwindigkeit notwendig“, sagte Thiess Büttner am Mittwoch. Der Ökonom der Universität Erlangen-Nürnberg steht dem wissenschaftlichen Beratungsgremium des Stabilitätsrats vor.

Die große Diskrepanz zwischen Potenzialwachstum und prognostiziertem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist für ihn ein Zeichen dafür, dass es sich um ein „Strohfeuer handelt.“ Damit sieht er die Bundesregierung auf Konfliktkurs mit Brüssel. Laut Büttner ist die deutsche Finanzpolitik „derzeit nicht so angelegt, dass sie in der mittleren Frist mit den EU-Regeln kompatibel ist“.

Im Stabilitätsrat unter Leitung von Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) und Nordrhein-Westfalens Finanzminister Marcus Optendrenk (CDU) zeigt man sich angesichts des rasanten Schuldenanstiegs besorgt. Sollte sich der Trend fortsetzen, sei die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen gefährdet, hieß es am Vortag in einer Mitteilung des Gremiums.

Deutschland droht ein EU-Defizitverfahren

Bis 2029 könnte die sogenannte Maastricht-Quote für die Gesamtverschuldung auf gut 80 Prozent von zuletzt 62 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung steigen. Damit hält sich Deutschland im Vergleich etwa zu Frankreich zwar immer noch gut, doch eigentlich gilt in der Euro-Zone eine Obergrenze von 60 Prozent. Zugleich werden die laufenden Staatsdefizite in den Jahren 2026 und 2027 die Obergrenze des Stabipakts von drei Prozent des BIP deutlich überschreiten. Kurzum: Deutschland droht ein EU-Defizitverfahren, sollte die Wirtschaft nicht dauerhaft anspringen und gleichzeitig die großzügige Ausgabenpolitik wieder eingefangen werden.

Noch im Sommer war unklar, ob das gewaltige Schuldenpaket inklusive der Ausnahmeregel für Verteidigungsausgaben überhaupt mit den neuen EU-Regeln vereinbar ist. Die Regeln sehen neben den bekannten Defizitgrenzen zusätzlich einen vorgezeichneten Ausgabenpfad für die kommenden Jahre vor. Dafür bekam die Bundesregierung nun zunächst grünes Licht aus Brüssel. Sie muss in den nächsten Jahren dann aber auch liefern.

Von zentraler Bedeutung ist, dass „Maßnahmen umgesetzt werden, die das Potenzialwachstum erhöhen, das Ausgabenwachstum des Staates begrenzen und Einnahmepotenziale ausschöpfen“, stellte der Stabilitätsrat fest. Ausgaben mit „Zukunftsorientierung und zur Stärkung des Potenzialwachstums seien zu priorisieren, andere Aufgaben hinsichtlich ihrer Erforderlichkeit zu überprüfen“, hieß es weiter in der schriftlichen Stellungnahme.

Bislang ist die Bundesregierung vor allem durch milliardenschwere Rentenprojekte und teure Steuergeschenke für Pendler und die Gastronomie aufgefallen. Zu einem höheren Potenzialwachstum und damit am Ende zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum, die steigende Zinsausgaben für die zusätzlichen Schulden rechtfertigen, führen diese Maßnahmen nicht.

Finanzminister Klingbeil gab anlässlich der Herbstprojektion das, was er seit Wochen sagt: „Wir werden weiter Reformen vorantreiben für mehr Wettbewerbsfähigkeit, weniger Bürokratie und einen zukunftsfesten Sozialstaat. Und wir werden den Konsolidierungskurs mit Blick auf die Haushaltslücken ab 2027 weiter verschärfen, hier bleibt der Handlungsdruck hoch.“

Wirtschaftsministerin Katherina Reiche brachte ihre Botschaft auf die knappe Formel: „Wir müssen kämpfen.“

Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und Business Insider erstellt.

Karsten Seibel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet unter anderem über Haushalts- und Steuerpolitik.

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