"Wir spielen für die Menschen, nicht für Präsidenten"
Anfang der 1980er-Jahre gründen drei Schüler aus Essen-Altenessen aus Langeweile eine Heavy-Metal-Band namens Tormentor - ohne jegliche Vorkenntnisse in Sachen Musik. Inspiriert durch Bands wie Kiss erarbeiten sich die Teenager - inzwischen als Kreator - ein eigenes Repertoire und angeln sich völlig überraschend einen Plattenvertrag. "Endless Pain" erscheint 1985. Es ist der Beginn einer bis heute währenden Thrash-Metal-Karriere.
Wie es damals genau losging, erfährt man nun in "Your Heaven, My Hell", der Autobiografie von Sänger und Gitarrist Mille Petrozza. Es sind Erinnerungen an eine Jugend im Ruhrpott und die ersten Schritte im Musikbusiness. Noch mehr zu Kreator gibt es dann mit der Doku "Hate & Hope", die am 4. September in die Kinos kommt. Hierfür hat Cordula Kablitz-Post die Band über längere Zeit weltweit begleitet, aber auch eine Menge Archivmaterial einfließen lassen.
Im Interview mit ntv.de spricht der 57-jährige Mille über die Herausforderungen, die das Schreiben eines Buchs und das Drehen einer Doku mit sich bringen und warum er dem Ruhrpott bis heute noch nicht den Rücken gekehrt hat.
ntv.de: Wie kam's zu der Idee einer Autobiografie? Ab wann wusstest du: Es lohnt sich, das alles mal aufzuschreiben?
Mille Petrozza: Das war eine Mischung aus vielem. Der Verlag kam auf mich zu, und als es direkt hieß, dass Torsten Groß Co-Autor werden könnte, war klar: Das kann was werden. Torsten und ich sind schon länger befreundet. Wir haben uns oft bei mir getroffen, Wassermelone gegessen, Kaffee getrunken - ich habe mich erinnert, er hat die richtigen Fragen gestellt. Mir war wichtig, dass das Buch kurzweilig ist. Deshalb hört es 1992 auf, damit es sich nicht wie Kaugummi zieht. Perfekte Drei-Tage-am-See-Lektüre. (lacht)
Liest du selbst Künstlerbiografien, hat dich etwas davon inspiriert?
Ich lese dauernd Biografien. Manchmal mag ich die Person danach noch mehr, manchmal bin ich enttäuscht. Dieses Risiko gehört dazu. Ich wollte mich selbst kritisch sehen, aber mein Umfeld schützen. Keine Wunden aufreißen, nur damit's knallt.
Gab es also eine Art Selbstzensur? Sind Dinge dafür unter den Tisch gefallen?
Eigentlich nicht. Wir haben nur ein paar Namen geändert, um andere - und uns - zu schützen und keine Klagen zu provozieren. (lacht) Klar war auch: Wir schreiben nicht "The Dirt 2". Diese Maximal-Exzesse haben Mötley Crüe erzählt. Wir kommen aus dem Ruhrpott, das ist eine andere Geschichte.
Hast du deine Erinnerungen auch mal gegengecheckt - zum Beispiel mit eurem Schlagzeuger Ventor?
Nee. Sonst wäre es ja ein Kreator-Buch geworden und nicht meins. Wenn jemand sagt: "Das war alles anders!" - alles gut, aber dann soll er sein eigenes Buch schreiben.
Wie sehr hat der Ruhrpott dich und die Band geprägt? Hätte es Kreator auch gegeben, wenn ihr woanders groß geworden wärt?
Das, was Kreator ausmacht, kommt aus dieser Gegend und jener Zeit. Es gibt Kollegen wie Destruction aus Weil am Rhein, die musikalisch einen ähnlichen Weg gegangen sind – aber unsere Prägung ist Ruhrpott, Punkt. Selbst als wir in die Welt raus sind, ist dieses Grundrauschen immer geblieben.
Du lebst heute in Berlin, aber auch immer noch in Essen. Warum?
Ich mag beides. Hier in Berlin gibt es Sachen, die ich total genial finde. Und es gibt auch im Ruhrgebiet Dinge, die anders genial sind. Deswegen möchte ich momentan meine Zelte da noch nicht ganz abbrechen. Ich weiß, das ist ein bisschen schizophren. (lacht)
Wenn du zurück auf die 80er und die damalige Metalszene blickst, passiert das in romantischer Nostalgie? Fehlt dir etwas aus der Zeit?
Ich romantisiere wenig. Was ich aber auf jeden Fall nicht vermisse: dass überall geraucht wurde - Restaurant, Flugzeug, Proberaum. Wenn ich daran denke, was man damals passiv mitgeraucht hat … nee. Vergangenheit bleibt Vergangenheit. Die hast du im Kopf, aber leben musst du jetzt.
Die Metalszene ist seit damals deutlich gewachsen - wie man unter anderem an der heutigen Größe des Wacken Open Airs erkennt. Woran liegt das deiner Einschätzung nach?
An der Community. In den 90ern wurde Metal als "konservativ" verlacht, heute beneidet man die Treue der Fans. Sie bleiben ihren Bands verbunden und entdecken trotzdem auch noch Neues. Das gibt's vielleicht im Punk und Dark Wave noch, aber im Metal ist es besonders stark.
Heute kann man dank Streaming von nahezu überall nahezu jede Band hören. Ein Vorteil gegenüber früher?
Früher war's Tape-Trading, kleine Gigs, Mundpropaganda. Du fährst in Städte, spielst vor wenigen, die erzählen's weiter, du kommst wieder. Heute ist vieles leichter zu entdecken - auch wenn jemand kein Geld für den Kauf eines Albums hat. Das ist gut. Gleichzeitig ist eine Industrie weggebrochen. Viele vergessen dabei, dass Plattenfirmen teils an Spotify beteiligt sind. Am Ende suchst du dir neue Wege, arbeitest mehr, tourst mehr. Physische Releases laufen bei uns aber weiterhin gut.
Ihr habt schon früh klare Kante gegen Nazis gezeigt. Wie gehst du heute damit um? Ist das aktuell wichtiger nicht denn je?
Damals gab's diese deutliche Ansage auf Tour - die hatte ihren Kontext. Heute trage ich Antirassismus nicht als Orden an der Brust. Denn gegen Nazis zu sein ist doch das Minimum?! In der Metal-Welt sind 99 Prozent der Leute nicht rassistisch, der Rest findet im Untergrund statt.
Das ist auch kurz Thema in der Doku "Hate & Hope". Wie kam es überhaupt zu diesem Film?
Über die Filmemacherin Cordula Kablitz-Post. Wir kannten uns von einer geplanten "Durch die Nacht mit …"-Folge. Die Sendung ist dann aber vorher abgesetzt worden. Später sahen wir uns bei ihrem Toten-Hosen-Film wieder. Cordula hatte schon lange die Idee zu einer Kreator-Doku. Nach der starken Scooter-Dokuserie auf Netflix habe ich dann endlich gesagt: "Machen wir." Sie hat die Filmförderung bekommen. Die Band war anfangs skeptisch, am Ende waren aber alle voll dabei. Cordula hat uns dann eine Weile auf Tour eng begleitet.
Eine der emotionalsten Szenen ist jene, in der ihr die weit gereisten Fans 2024 über den Abbruch des "Klash of the Ruhrpott" informieren müsst. Wie weh tat das?
Sehr. Das war die Schlüsselszene - ein Antiklimax. Mitten im Set wollten wir in einen Oldschool-Teil wechseln, Leinwand mit alten Bildern, Bühne umgebaut, alte Lampen aus den 80ern - und dann genau kommt der Regen genau in dem Moment. Im Amphitheater Gelsenkirchen gibt es aber keinen Blitzableiter. Das war hart für die Fans und es war hart für uns.
Wo habt ihr in der Doku die Grenze zwischen persönlich und privat gezogen? Wart ihr euch da einig?
Jede und jeder hat eigene Grenzen. Meine: Es darf persönlich werden, aber nicht privat. Mein Privatleben ist eben privat.
Du bist seit vielen Jahren Veganer. Hat sich die Situation für dich auf Tour mittlerweile verbessert?
Es ist besser geworden und ich kenne die Tricks. Manchmal ist es schwierig, aber es ist nicht unmöglich.
In L.A. hast du deine Bandkollegen sogar dazu bekommen, mit dir in ein veganes Restaurant zu gehen …
… und alle waren positiv überrascht. Unterschiedliche Charaktere gehören dazu, sonst wäre es langweilig. Ich fände eine veganere Welt gut, aber wichtiger ist, dass möglichst viele überhaupt erste Schritte in diese Richtung gehen - statt "Vegan-Polizei" zu spielen.
Ihr tourt immer wieder in den USA. Da hat sich zuletzt das politische Klima deutlich verändert. Merkt ihr davon etwas? Und wäre für euch ein Boykott denkbar?
Nein. Sonst kannst du nirgends spielen. Wir treten in Ländern mit Politik auf, die wir nicht mögen - in Ungarn, in den USA. Wir spielen für die Menschen, nicht für Präsidenten. Und an der Grenze hoffst du einfach auf Beamte mit guter Laune - das war vor zehn Jahren schon so. Und ja: Es gibt keinen sauberen Deal in einem kaputten System. Also machst du's so integer wie möglich.
Ist das Touren immer also noch das Beste an dem Job?
Eher das Spielen, das liebe ich. Das Touren selbst? Flughäfen, Grenzen, Warterei, die Suche nach einem sauberen Klo - das nervt. Aber sobald du auf der Bühne bist, ist alles egal.
Ozzy Osbourne witzelte mal, er wollte in einem Biopic von Denzel Washington gespielt werden. Wer spielt dich in einem noch nicht geplanten Kreator-Biopic?
Wenn man 1992 ansetzt und lange Haare braucht: Von den deutschen Schauspielern halte ich einen wirklich für herausragend, und das ist Lars Eidinger. Wenn er Bock hätte, why not?!
Buch und Doku sind auf dem Markt. Was kommt also als Nächstes?
Ein neues Album am 16. Januar. Im September erscheint als Ankündigung die erste Single.
Mit Mille Petrozza sprach Nicole Ankelmann
Die Autobiografie "Your Heaven, My Hell" ist ab dem 28. August im Buchhandel erhältlich. Die Doku "Hate & Hope" startet am 4. September in den deutschen Kinos.
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