Die israelische Schriftstellerin und Psychotherapeutin Ayelet Gundar-Goshen erzählt in ihren Romanen vom Alltag in einem politisch und gesellschaftlich angespannten Land. Im Interview spricht sie über das Schreiben als politischer Akt.

SRF: Nach dem 7. Oktober 2023 waren Sie als Traumatherapeutin im Dauereinsatz und haben mit Menschen gearbeitet, die den Anschlag der Hamas überlebt haben. Jetzt sind Sie wieder in einer psychiatrischen Klinik tätig. Was bedeutet politisches Engagement für Sie?

Ayelet Gundar-Goshen: Wir können nicht schweigen, wenn Unrecht geschieht. Wer jetzt nichts sagt, macht sich mitschuldig. Ich stelle mich Woche für Woche zusammen mit vielen weiteren Israelis gegen die extremste Regierung, die Israel je hatte.

Was Benjamin Netanjahu im Moment in Gaza tut, hilft weder den israelischen noch den palästinensischen Menschen.

Wir demonstrieren für einen sofortigen Waffenstillstand und für die Befreiung der israelischen Geiseln. Wir protestieren gegen Netanjahu, gegen den Gaza-Krieg, gegen das Unrecht, das der Zivilbevölkerung dort angetan wird. Wegschauen ist keine Option.

Was heisst das für die Verantwortung von Israel?

Israel hat jedes Recht, sich nach dem Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 zu verteidigen. Aber was Benjamin Netanjahu im Moment in Gaza tut, hilft weder den israelischen noch den palästinensischen Menschen.

Neben Ihrer Tätigkeit als Therapeutin sind Sie auch Schriftstellerin. Kommt die Politik der Literatur in die Quere?

Schreiben ist für mich ein politischer Akt. Wenn sich das Schreiben und somit die Literatur mit grundlegenden Fragen auseinandersetzt, Fragen um die Humanität und Verantwortung im Nahen Osten – und überhaupt.

Geschichten haben eine Kraft, die die Politik fürchtet.

Nach dem 7. Oktober, als ich vor allem als Traumatherapeutin gearbeitet habe, haben mich Boykottaufrufe gegen Literatur und Film angestachelt, mein Manuskript von meinem Roman «Ungebetene Gäste» aus der Schublade zu holen und es zu überarbeiten. Denn die Boykottaufrufe innerhalb Israels gegen die Künste haben mir gezeigt: Geschichten, ob im Film oder in der Literatur, haben eine Kraft, die die Politik fürchtet.

Welche politische Kraft haben künstlerische Werke, dass sie gefürchtet werden müssen?

Als «No Other Land», ein Film über die brutale Vertreibung palästinensischer Dorfbewohner durch israelische Behörden, einen Oscar gewann, forderte der israelische Kulturminister, dass kulturelle Einrichtungen ihn nicht zeigen dürfen. Für Israels Rechte war der Film zu sehr auf der Seite der Palästinenser. Für Unterstützer der BDS-Bewegung beging er die unverzeihliche Sünde der israelisch-palästinensischen Zusammenarbeit. Allein die Existenz des Films – eine Partnerschaft zwischen einem palästinensischen Dorfbewohner und einem israelischen Aktivisten, wurde für jene zum Verrat, die die absolute ideologische Reinheit fordern.

Weil die Kunst und die Perspektive des «Anderen» Empathie und Nähe schaffen.

Ja, genau. Immer dann, wenn Kunst Empathie für die Gegenseite weckt, scheint sie zur Bedrohung zu werden. Offenbar fürchtet sich die Politik vor der Kraft der Kunst, denn je mehr Empathie sie schafft, desto schwerer fällt es, die «Anderen» zu entmenschlichen.

Haben Sie trotz allem auch Hoffnung auf Frieden?

Es fällt mir nicht immer leicht, Hoffnung zu haben. Einerseits bin ich sehr pessimistisch, was die Möglichkeit eines Abkommens betrifft. Andererseits bin ich optimistisch, denn es war noch nie so klar wie jetzt, wie dringend ein Friedensabkommen ist. Und: Frieden schliesst man nicht mit den besten Freunden. Frieden schliesst man mit seinen Feinden.

Das Gespräch führte Jennifer Khakshouri.

 

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