Wurde die erste Schweizer Frauen-Nati betrogen?
Nach der Niederlage gegen die Italienerinnen sind sich die Schweizer Spielerinnen einig, woran es gelegen hat: «L'arbitre! L'arbitre!», «Schiedsrichter! Schiedsrichter!», rufen sie in die Fernsehkamera. Sie sind überzeugt, dieser habe parteiisch gepfiffen.
Es ist 1970, und in Italien findet die erste inoffizielle Frauen-Weltmeisterschaft statt. Zur Länderspiel-Premiere kommt es in einer Zeit, in der Frauenfussball in der Schweiz aufblüht. Während es in der Politik um Frauenrechte, Umweltfragen und soziale Bewegungen geht, entsteht 1970 die erste Schweizer Frauen-Nationalmannschaft.
18 Vereine sind mit dabei: von La Chaux-de-Fonds, Boudry über Zürich bis nach Ebnat-Kappel. Frauenfussball war in den Jahrzehnten davor verpönt – in einigen Ländern sogar offiziell verboten.
Die Sporthistorikerin Marianne Meier von der Universität Bern sagt, Frauenfussball sei in den 1970er-Jahren in allen Facetten der Gesellschaft aufgekommen: «Es gab weder parteipolitische Grenzen noch einen Stadt-Land-Graben. Es war eine gesamtschweizerische Bewegung.»
Im Liegewagen nach Salerno
Vor der Länderspiel-Premiere in Italien findet damals ein nationales Auswahlspiel statt: Nationaltrainer Jacques Gaillard wählt aus 32 Spielerinnen die 16 WM-Teilnehmerinnen aus. Sie kommen aus den Kantonen Wallis, Zürich, Nidwalden, Waadt und Neuenburg. Im Team gibt es grosse Altersunterschiede: Zwischen der jüngsten und der ältesten Spielerin liegen ganze 13 Jahre.
Das WM-Turnier in Italien gilt als inoffiziell, weil es nicht von der Fifa, sondern von Geschäftsleuten und Rechtsanwälten aus Turin organisiert wird. Der Spirituosenhersteller Martini & Rossi ist Sponsor und Werbeträger.
Die Nati reist mit dem Zug in die italienische Küstenstadt Salerno. Cathy Moser, damalige Nati-Stürmerin und Spielerin in der italienischen Liga, erinnert sich: «Es war eine lange Reise. Wir hatten eine Couchette, einen Liegewagenplatz. Dann wurden wir in ein Hotel gebracht und trainierten zum ersten Mal gemeinsam.»

Viele der Nati-Spielerinnen lernen sich in Salerno kennen; die einen sprechen Deutsch, die anderen Französisch. Sie verständigen sich mit Händen und Füssen, erzählt Cathy Moser heute, 55 Jahre später. Mirella Cina, zweite Torhüterin aus dem Wallis, ist zweisprachig und hilft damals beim Übersetzen.
Am 8. Juli 1970 reist die Nati mit dem Autobus ins Stadio Donato Vestuti. Das Stadion ist gut gefüllt, etwa 10'000 Zuschauerinnen und Zuschauer sind da. Um 18:30 Uhr eröffnet der italienische Schiedsrichter Santopietro das Spiel.
Haushoch überlegen, aber betrogen?
«Wir haben ein sehr gutes Spiel gemacht», sagt Cathy Moser. Schon nach wenigen Minuten gelingt den Schweizerinnen die Führung – doch der Treffer wird annulliert. Offenbar wegen Abseits. Dann gelingt den Italienerinnen das 1:0. Aus abseitsverdächtiger Position, aber der Treffer zählt.

Die Schweiz kann ausgleichen, doch Italien gelingt kurz vor Schluss das 2:1. Die Nati-Spielerinnen bestreiten, dass der Ball die Torlinie überhaupt überschritten hat. Sie fühlen sich vom Schiedsrichter benachteiligt, auch weil dieser offenbar Schweizer Spielerinnenwechsel untersagt und das Spiel zu früh abgepfiffen habe.
Heute sagt die damalige Nati-Stürmerin: «Die Organisatoren wollten wohl die einheimischen Italienerinnen in den Final bringen.» Und so berichten damals auch Schweizer Medien. In der Wochenzeitung Schaffhauser AZ heisst es, die Schweizerinnen seien Italien haushoch überlegen gewesen, wurden aber «von einem offenbar gekauften Schiedsrichter auf übelste Art betrogen».
Italienische Presse schreibt von Skandalspiel
Zu einer offiziellen Untersuchung ist es nie gekommen. Gegenüber SRF schildert die damalige italienische Spitzenspielerin Elena Schiavo ihre Sicht auf die Dinge. Sie sagt, es sei damals wohl nicht einfach gewesen, Schiedsrichter zu finden: «Jener Schiedsrichter im Spiel gegen die Schweiz hat wohl ein Auge zugedrückt, nicht wahr?»

Ob sie damit eine Bevorzugung des italienischen Teams meint, lässt sie offen – Schiavo will sich nicht festlegen, ob es tatsächlich Betrug war. Aber die Historikerin Marianne Meier sagt, alles spreche dafür: Sie hat in ihren Nachforschungen Berichte der italienischen Presse gefunden, in denen von einem Skandal die Rede ist. Darin heisst es, der Schiedsrichter habe die Schweizerinnen betrogen.
Das Schweizer Team verzichtet damals darauf, Beschwerde einzulegen. In einem internen Bericht heisst es: «Wir unterliessen den Schritt, weil wir glaubten, dem Damenfussballsport eher einen Bärendienst zu leisten.» Die Nati-Verantwortlichen befürchteten, es schade dem Frauenfussball, wenn die Seriosität des Turniers angezweifelt wird.
Über 20 Jahre nach der inoffiziellen Weltmeisterschaft in Italien findet 1991 erstmals eine von der Fifa mitorganisierte WM statt. Doch die Schweizerinnen qualifizieren sich erst 2015 für die offizielle WM. In den Jahrzehnten davor ist der Schweizer Frauenfussball ins Hintertreffen geraten. Trotz des Vorsprungs: Denn mit den ersten Länderspielen Anfang der 1970er-Jahre zählt die Nati international zu den frühen Frauen-Nationalteams.
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