Grübeln nervt – trifft aber einen Nerv der Zeit
Was haben Schlagersängerin Andrea Berg, Autor Thomas Mann und Philosophie-Radiohost Jürgen Wiebicke gemeinsam? Sie alle raten uns, nicht zu grübeln.
Auch in den sozialen Medien ist Grübeln unerwünscht. Allein auf TikTok gibt’s zu #Overthinking – lose übersetzt Grübeln auf Englisch – 1.6 Millionen Einträge mit Tipps, wie man das Gedankenkarussell endlich stoppen kann.

Bei allen Menschen, die in diesem Text vorkommen, dreht es aber heiter weiter: beim Philosophen Pablo Hubacher Haerle, der Schriftstellerin und Kolumnistin Nina Kunz, dem Neurowissenschaftler Ethan Kross. Und auch bei mir, der Autorin dieses Textes.
Ich stelle mir mein Hirn manchmal als altmodischen Pfeifkessel vor. Die Gedanken sind der Dampf. Wenn der Siedepunkt erreicht ist, dann pfeift’s. Doch wohin mit all dem Dampf? Mein Hirn und sein hydraulisches Problem. Was nun?
Ist der Ruf erst ruiniert
Gegrübelt wird aber nicht erst, seit Menschen in den sozialen Medien scrollen. Schon Walter Benjamin beschrieb den Grübler in den 1930er-Jahren als jemanden, «der die Lösung des grossen Problems schon gehabt, sie sodann aber vergessen hat». Grübeln, ein Kulturbegriff, dessen Karriere in den letzten 250 Jahren leider – gelinde gesagt – schlecht verlief.
Kulturwissenschaftler Burkhard Meyer-Sickendiek redet in seinem Buch «Tiefe. Über die Faszination des Grübelns» von drei Phasen: In der Romantik war es en vogue, durchs Grübeln «in das innere Weltall» vorzudringen.
Oft war der Held in den damaligen Novellen versunken in die grossen Fragen des Lebens. Mitte des 19. Jahrhunderts ändert sich das, Grübeln wird von den ersten Psychiatern als krankhaft gesehen – und seit den 1990er-Jahren als ein Risikofaktor für Depressionen.
Grübeln – ein Grundproblem
«Es fühlt sich an, als würden sich Schlingen um mich ziehen», sagt Nina Kunz. Die 32-jährige Zürcherin hat das Buch «Ich denk, ich denk zu viel» geschrieben und stand damit über eineinhalb Jahre auf der Schweizer Bestsellerliste.
«Ich gebe mir Mühe, nicht in die ewigen Gedankenschlaufen zu geraten. Aber manchmal kommen die Fragen und beissen mich von hinten», so Nina Kunz. Mit ihrem Grübel-Buch trifft sie einen Nerv der Zeit. Grübeln: gegenwärtig und scheinbar gesellschaftliches Grundproblem.
Nächtlich nagende Fragen
Der Begriff des «Grübelns» ist nicht klar umrissen. Mehrere Disziplinen, etwa die Psychologie und Philosophie, befassen sich damit. Grübeln kann ein Symptom einer Depression oder Angststörung sein. Muss es aber nicht. Genauso ist es ein Alltagsphänomen. Im Fachjargon in der Psychologie heisst Grübeln «Rumination», also Wiederkäuen.
Im Kern bezieht sich Grübeln auf negative Situationen, über die ständig und selbstkritisch nachgedacht wird. Oft assoziiert mit Unwohlsein, Stress, Ängsten.
«Wir gleiten ständig aus der Gegenwart in die parallele Welt unserer Gedanken ab», sagt der US-amerikanische Neurowissenschaftler Ethan Kross. Sein Buch «Chatter. Die Stimme in deinem Kopf» gilt als Grundlagenwerk. Unser Standardzustand sei eine Mischung aus, «sich erinnern, grübeln und projizieren.»
Partykracher der existenziellen Fragen
Immer wieder mit der Kündigung spielen. Sich fragen, ob man ein guter Vater ist. Zum 50. Mal den einen Abschiedsgruss durchdenken: Ja, das Gehirn kann zum mühsamen Mikromanager werden.

«Kenn' ich», sagt Philosoph Pablo Hubacher Haerle. So machte er Grübeln zu seinem Forschungsgebiet und promovierte in Cambridge dazu. Seine Definition von Grübeln: «Jemand geht einer Frage nach, kommt dabei der Antwort nicht näher und fährt trotzdem fort».
In seiner Forschung unterscheidet er zwischen fragendem und nicht-fragendem Grübeln. Also: «Soll ich umziehen?», eine konkrete Frage, oder das endlose mentale Wiederholen vom verpatzen ersten Date. Man war nicht so schlagfertig, wieso nur?
Grübeln, die Gegenwartsdroge
Das sei der perfekte Ausgangspunkt für einen Grübel-Marathon, sagt Nina Kunz. Auch sie unterscheidet zwei Grübel-Kategorien, ähnlich wie Hubacher Haerle. Zum einen: Hirnen über Geschehnisse, die man nicht mehr ändern kann – wie das maue Date. Zum anderen: Grübeln über abstrakte Themen mit Fragen à la «Gestalte ich mein Leben richtig?».
Das habe viel mit dem aktuellen Narrativ zu tun, wir seien für unser eigenes Glück verantwortlich. Heisst: Richtige Techniken anwenden und sich selbst optimieren. «In meiner Generation geht es oft darum, alles kontrollieren zu müssen.»
Viel Gestaltungsraum heisst viel Verantwortung. «Diese Mentalität ist der fruchtbarste Boden fürs Grübeln», sagt Nina Kunz. Nonstop müssen Entscheidungen getroffen werden. Ja, keine Möglichkeiten vergeuden!
Die unendlichen Optionen treiben die Millennials um. Kunz erzählt jedoch, wie Menschen aus allen Generationen sie auf ihr Buch angesprochen haben.
Hauptsache Kontrolle
Während ich all die Interviews führe, Bücher lese und Podcasts höre, frage ich mich: Was erhoffe ich mir eigentlich von meiner eigenen Grübelei? Eine Lösung? Vielleicht. Das Gefühl haben, inmitten völliger Überforderung wenigstens etwas aktiv zu tun? Bestimmt. Kontrolle haben? Voll erwischt.
«Ich kann gar nicht gut mit dem Unerwartbaren umgehen», gesteht auch Autorin Nina Kunz. Grübeln habe bei ihr eine psychologische Funktion. «Wenn ich überfordert bin, versuche ich mit dem Grübeln, Ordnung herzustellen.»
Doch eher Fluch als Segen?
Nur leider widersprechen uns Expertinnen – diese Versuche seien kontraproduktiv. Gemäss Neurowissenschaftler Ethan Kross gibt es eine Reihe an Studien, die zeigen, dass das Beschäftigen mit sich selbst in Stresssituation nicht hilfreich ist. Meist verlängert es die Stressreaktion.

Unsere Gedanken retten uns nicht vor uns selbst, sondern sie erzeugen negative Kreisläufe. Grübeln zehrt so viel Aufmerksamkeit, sodass nur wenig übrig bleibt. Unsere Fähigkeit zur Introspektion kann in solchen Momenten mehr Fluch als Segen sein.
Aufschlussreich, einigen Gedanken nachzueilen
Angesichts der negativen Emotionen, die mit Grübeln verbunden sind, ist der schlechte Ruf verständlich. Nichtsdestotrotz will Philosoph Pablo Hubacher Haerle eine Lanze brechen fürs Grübeln – solange es nicht pathologisch ist. «Etwas kann unproduktiv sein und trotzdem einen Wert haben».
Beim Nachdenken über mich selbst kann ich viel Wichtiges herausfinden
Sich in Gedanken wälzen, im Austausch – egal, ob man an ein Ziel kommt. «Vielleicht stosse ich auf neue Fragen, sehe etwas differenzierter, merke, dass eine Unterscheidung wichtig ist. All das ist auch ein Gewinn, oder?», so der Philosoph. Den Begriff «overthinking» findet er klärungsbedürftig. Ein Zuviel des Denkens, gibt es das?
Auch den Vorwurf der ständigen Selbstbespiegelung entkräftet er. «Beim Nachdenken über mich selbst kann ich viel Wichtiges herausfinden», so Hubacher. Besonders wenn es dabei um die Bewusstwerdung eigener Vorurteile geht, profitiere auch die Gesellschaft.
Flüssiger Kaugummi gegen Weltschmerz
Es sei okay «und menschlich, manchmal zu grübeln», bekräftigt auch Autorin Nina Kunz. Solange man die Gegenwart dabei nicht verpasse. «Ich möchte so wach wie möglich durchs Leben gehen.» Es sei ein rares Gut und «ich fände es schade, wenn ich so viel davon verpassen würde, weil ich dauernd in meinen Gedanken hänge», resümiert Nina Kunz.

Als Kind habe sie eine Körpertechnik gelernt. Noch heute wende sie die an, wenn das Gedankenkarussell ihr den Schlaf raubt. «Ich stelle mir vor, von Kopf bis Fuss mit warmem, flüssigem Kaugummi aufgefüllt zu werden.» Zum Beispiel mit Hubba Bubba. «Das Schönste, was es gibt, dachte mein 9-jähriges Ich», lacht Kunz.
Wie passend, dass der Slogan der Kaugummimarke «Big bubbles, no troubles» ist. Und ich, mit dem rostigen Wasserkessel? Ich dampfe weiter. Mal mit mehr – mal mit weniger Druck.
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