Nachts rollen Kolonnen von Militärfahrzeugen durch Hamburg, Hubschrauber schützen sie aus der Luft. Im Hafen stehen an mehreren Tagen Sicherungsposten, besetzt mit Feldjägern – der Militärpolizei der Bundeswehr – und mit Reservisten der Heimatschutzkompanie. Polizei, Feuerwehr und Technisches Hilfswerk (THW), Senat und Behörden unterstützen die Bundeswehr, auch dabei, viele Verwundete zu versorgen.

So wird es in der kommenden Woche aussehen. Vom 25. bis zum 27. September läuft im Hafen und im Stadtgebiet das Manöver „Red Storm Bravo“. Nach „Red Storm Alpha“ im vergangenen Jahr ist es die zweite Großübung der Bundeswehr in Hamburg seit Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022. „Wir wollen hier im Landeskommando Hamburg zusammen mit anderen militärischen Einheiten bestimmte Fähigkeiten erproben, etwa die Kolonnenführung. Wir wollen uns Gedanken machen, wie sieht eigentlich die Drohnenszenerie aus? Welche Fähigkeiten haben wir? Welche Bedrohungen haben wir?“, sagte Kapitän zur See Kurt Leonards, Kommandeur des Landeskommandos Hamburg der Bundeswehr, WELT AM SONNTAG. „Wir wollen auch üben, wie können wir bei einem Massenanfall von Verletzten unterstützen? Das Besondere dabei ist, dass wir das nicht abgeschirmt, isoliert auf einem Truppenübungsplatz machen wollen, sondern in einem städtischen Umfeld und vor allen Dingen in der Zusammenarbeit mit anderen zivilen Blaulichtorganisationen.“

Leonards leitet das Manöver mit seinem Stab in einer Operationszentrale in der Reichspräsident-Ebert-Kaserne im Stadtteil Iserbrook. Die Bundeswehr setzt rund 500 Soldatinnen und Soldaten und etwa 50 Radfahrzeuge bei „Red Storm Bravo“ ein. Die Übung wird seit Beginn des Jahres geplant. Simuliert wird, wie ein Frachtschiff und ein Flugzeug Truppen und Material in Hamburg anlanden, die nach Osten verlegt werden, in die baltischen Staaten, an die Grenze zu Russland. Das Schiff und das Flugzeug sind nur fiktive Elemente des Manövers, die Bewegungen und Aktionen von Menschen und Militärfahrzeugen in der Stadt sollen hingegen so realistisch wie möglich geübt werden.

Die Nato rechnet damit, dass Russland um 2029 herum militärisch in der Lage sein wird, das Bündnis ernsthaft zu provozieren oder Mitgliedstaaten – etwa die baltischen Länder Estland, Lettland oder Litauen – tatsächlich anzugreifen. Wie schnell dieser Ernstfall eintreten kann, deutete sich in der vergangenen Woche an: Polen beantragte Konsultationen nach Artikel 4 des Nato-Vertrages, nachdem mindestens 19 russische Drohnen in den polnischen Luftraum eingedrungen waren, überwiegend aus Weißrussland kommend, aber auch aus Russland selbst. Ein kleiner Teil von ihnen wurde abgeschossen.

Sollten die unbemannten Kriegsgeräte die Westukraine treffen, flogen sie aus Versehen nach Polen? Oder testete Russland auch diesmal die Nato, wie so oft bei seiner „hybriden“ Kriegsführung? Zunächst blieb die Lage unklar. Doch diese Woche sagte der polnische Staatspräsident Karol Nawrocki WELT: „Wir haben keinen Zweifel daran, dass dies ein direkt aus Moskau gesteuerter Angriff war.“ Die Nato verstärkt nun ihre Luftabwehr in Polen im Rahmen der Operation „Eastern Serenity“.

Das Ausgangsszenario für „Red Storm Bravo“ basiert auf einem ähnlich konstruierten Fall: Estland sieht sich durch Russland akut bedroht, beantragt Konsultationen nach Artikel 4 des Nato-Vertrages und erbittet die Verlegung von Truppen nach Osten. „Die Realität hat uns überholt“, sagt Oberstleutnant Jürgen Bredtmann, Leiter der Kommunikation beim Landeskommando Hamburg.

Die jüngsten Entwicklungen zeigen, wie schnell der Ukrainekrieg in Richtung Nato eskalieren kann – und wie langsam sich Deutschland darauf vorbereitet. Der „Operationsplan Deutschland“, ein ursprünglich mehr als 1000 Seiten starkes Dokument, beschreibt, wie die Bundeswehr in Zusammenarbeit mit den relevanten Stellen des Bundes und der Länder die Bewegung großer Nato-Einheiten nach Osteuropa organisieren soll. Doch der Operationsplan ist als geheim eingestuft. Auch deshalb ist der breiten Öffentlichkeit in Deutschland wohl wenig bewusst, wie komplex und langwierig die Vorbereitungen sind, um Deutschland im Rahmen der Nato verteidigungsbereit zu machen.

Deutschland ist zentrales Auf- und Durchmarschgebiet der Nato im Spannungs- und Verteidigungsfall mit Russland. Und Hamburg mit Deutschlands größtem Seehafen wird im Ernstfall eines der logistischen Drehkreuze sein. Doch die Hansestadt hat – anders als etwa Bremerhaven mit seiner Basis der US-Armee – praktisch keine aktuelle Erfahrung mit der Verlegung von Truppen und militärischem Gerät. „Deshalb möchten wir diese Szenarien gerne in einem städtischen Umfeld und in der Zusammenarbeit mit zivilen Blaulichtorganisationen durchführen, um in der Resilienzbildung, auch in der gesamtstaatlichen Verteidigung hier einen Beitrag leisten zu können“, sagt Leonards. „Es ist wichtig, dass wir mit der Polizei, mit der Feuerwehr, mit dem THW und mit anderen eine gemeinsame Sprache sprechen, ein gemeinsames Verständnis haben, dass diese Menschen, die dann in diesen unterschiedlichen Organisationen zusammenkommen, sich auch vorher schon kennen.“

Die Mobilisierung von Menschen und Fachwissen kostet Zeit und Motivation – wenig aber nur im Vergleich zu dem Aufwand, der mit der Ertüchtigung der Infrastruktur verbunden ist. Viele deutsche Straßen, Schienen und Wasserwege sind marode, speziell Brücken nicht mehr dazu geeignet, militärisches Großgerät wie mehr als 50 Tonnen schwere Panzer oder Haubitzen sicher zu tragen. Diese Defizite sind vor allem bei den stark belasteten Verkehrswegen an den deutschen Seehäfen zu sehen. Die Wirtschaft mahnt bei der öffentlichen Hand seit vielen Jahren an, diese Engpässe zu beseitigen – und nun kommt noch eine militärische Komponente hinzu.

Der Zentralverband der deutschen Seehafenbetriebe (ZDS) sieht allein für die verteidigungsrelevanten Bau- und Reparaturprojekte in den deutschen Seehäfen und bei den Inlandsanbindungen einen Bedarf von drei Milliarden Euro – als eine Teilsumme jener insgesamt 15 Milliarden Euro an Kosten, mit denen der ZDS für die Sanierung der deutschen Seehäfen kalkuliert. Dieses Geld müsste aus Sicht der Hafenbranche vor allem der Bund in den kommenden Jahren zur Verfügung stellen, um die Häfen für den künftigen Außenhandel und die Energieversorgung zu präparieren – und für die Verteidigung. „Den Seehäfen geht es wie der Bundeswehr – beide wurden seit der deutschen Einheit mehr als drei Jahrzehnte lang in ihrer Modernisierung sträflich vernachlässigt“, sagte Florian Keisinger, Hauptgeschäftsführer des ZDS, WELT AM SONNTAG. „Mit Blick auf die Bundeswehr hat man dieses Defizit mittlerweile verstanden und einen gesellschaftlichen Konsens gefunden, dass es beseitigt werden muss. Bei den Seehäfen sind wir an diesem Punkt noch lange nicht.“

Mit dem Bundesverteidigungsministerium hat der ZDS vor einigen Wochen Kontakt aufgenommen, um herauszufinden, ob eine Co-Finanzierung zur Hafensanierung auch aus den staatlichen Verteidigungsausgaben organisiert werden könnte. „Wir brauchen für die Modernisierung der Hafeninfrastruktur einen eigenen Posten im Haushalt des Bundesverteidigungsministeriums, dem Einzelplan 14“, sagt Keisinger. „Die Bundeswehr und Deutschlands Verbündete müssen im Konfliktfall in der Lage sein, die Seehäfen zu nutzen. Den Seehäfen kommt damit eine ganz neue Rolle zu, für die sie heutzutage weit überwiegend nicht vorbereitet sind.“ Ein zweites großes Thema ist aus Sicht der Hafenwirtschaft der Schutz der kritischen Infrastruktur, „etwa vor Drohnen und Ausspähung speziell auch im Rahmen der sogenannten hybriden Kriegsführung. Das sind mittlerweile alltägliche Situationen.“

Hamburgs Wirtschaftsbehörde teilt diese Analyse. „Deutschlands größter Hafen muss für diese Aufgaben ertüchtigt werden. Die Sanierung und auch die Herstellung von schwerlastfähigen Kaimauern, von schwerlastfähigen Kranen für Umladungen, die Bereitstellung von Waggongarnituren, die Flächenbereithaltung und erforderliche Sicherungsmechanismen gehören zu den Investitionen, die dafür getätigt werden müssen“, sagt ein Sprecher. Hamburg finanziere solche Projekte teilweise selbst, etwa die Sanierung des Steinwerder Kais an der Südseite der Marinewerft Blohm + Voss: „Angesichts des Investitionsbedarfs ist es aber nicht leistbar, alle Bedarfe militärischer Logistik aus kommunalen Mitteln abzubilden. Das ist eine Bundesaufgabe, die in den deutschen Häfen in den kommenden Jahren anfällt.“

In Hamburg lernt man aber auch, wo es bei der Erarbeitung einer höheren Wehrfähigkeit vorangeht. „Das Zusammenspiel zwischen Handelskammer, Bundeswehr und Senat zum Thema Operationsplan Deutschland und insgesamt zu einer höheren Resilienz und Verteidigungsfähigkeit funktioniert in Hamburg sehr gut. Das ist nicht selbstverständlich“, sagt Philip Koch, Geschäftsführer des Bereichs International bei der Handelskammer Hamburg: „Wir sehen unsere Aufgabe in der Handelskammer vor allem auch darin, die Schnittstellen zwischen allen der an diesem komplexen Prozess Beteiligten und der Wirtschaft zu verbessern.“

Voll des Lobes ist auch der Chef des Bundeswehr-Landeskommandos: „Das läuft in Hamburg sehr gut. Weil wir hier von Anfang an als Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr überhaupt keine Berührungsängste erlebt haben. Ganz im Gegenteil“, sagt Kurt Leonards. „Wir sind hier in Hamburg in einem sehr intensiven Austausch auch mit der Zivilgesellschaft.“

Zwei Wochen vor dem Beginn von „Red Storm Bravo“ stand der Kapitän zur See in der Handelskammer, bei einer Konferenz für Unternehmen, die an Fördermitteln der Europäischen Union für mehr Resilienz im Krisenfall interessiert sind. Leonards hielt seinen Basisvortrag „Deutschland nicht im Krieg – nicht mehr im Frieden“. Damit ist er mittlerweile häufig in der Stadt unterwegs, auch auf Anfrage von Unternehmen, Behörden und Rettungsdiensten. In der Handelskammer erklärte er, einen Tag nach dem Einflug der Drohnen in Polen, warum er seinen Vortrag nahezu jede Woche mit neuen Beispielen überarbeiten muss: „Wir haben das Thema Landes- und Bündnisverteidigung mehr als 30 Jahre lang nicht bearbeitet. Und das müssen wir jetzt tun. Denn das Thema ,hybride Aktion‘ ist längst auch in Deutschland angekommen.“

Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Die maritime Wirtschaft – Schifffahrt, Häfen und Werften – ist eines seiner Schwerpunktthemen, er berichtet aber auch über die Rüstungsindustrie und über die Bundeswehr.

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