„Kinderkliniken werden wieder überlaufen“ – Kinderärzte warnen vor dem Herbst
Für Ursula Felderhoff-Müser, Direktorin der Klinik für Kinderheilkunde I der Universitätsmedizin Essen, fühlen sich diese ersten Herbsttage an wie die Ruhe vor dem Sturm. „Wenn es nun kälter wird und sich das Leben wieder in die Innenräume verlagert, werden Infekte wie Influenza oder RS-Viren wieder zunehmen unter Kindern. Unsere Kinderkliniken werden dann wieder überlaufen“, sagt Felderhoff-Müser, die neben der Klinikleitung auch Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) ist.
Die entscheidende Frage für Felderhoff-Müser wird dabei nicht sein, ob die Kapazitäten ihrer Station ausreichen – sondern wie stark diese in diesem Jahr wohl wieder überschritten werden. „Wenn unsere Betten voll sind, müssen wir stundenlang herumtelefonieren, um freie Kapazitäten für Kinder zu bekommen. Dieses Szenario gab es leider in jedem der vergangenen Jahre“, sagt die Ärztin.
So wie Felderhoff-Müser blicken weite Teile der Kinderklinik-Verantwortlichen mit Sorge auf den Herbst. Zwar ist noch nicht kalkulierbar, wie stark die Infektionswellen in diesem Jahr ausfallen werden. Fachleute befürchten jedoch, dass das Infektionsgeschehen auch in diesem Winter viele Kliniken wieder an oder über ihre Kapazitätsgrenzen bringen könnte.
Denn das bundesweit herrschende Kliniksterben ist im Bereich der Kinderkliniken besonders ausgeprägt. Allein zwischen 2018 und 2023 sind fünf Prozent aller Kinderkliniken und -abteilungen verschwunden. Was dadurch an Kinderbetten verloren gegangen ist, müssen die 323 weiter bestehenden Kinderkliniken nun zusätzlich auffangen.
Impfung gegen RS-Virus als Hoffnungsschimmer
Doch dieses Unterfangen wird immer schwieriger. So sorgen chronische Krankheiten unter Kindern für höhere Belegungen der Stationen. Zudem wird die derzeitige Finanzierung der Kinderkliniken dem Bedarf der Häuser laut Fachverbänden nicht gerecht. Ein Gegensteuern aus der Politik ist trotz der großen Krankenhausreform, die Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) umsetzen will, derzeit nicht zu erkennen. Zumindest gibt es Lichtblicke, dass bestimmte Infektionen in diesem Herbst möglicherweise milder ausfallen könnten.
So wie Klinikdirektorin Felderhoff-Müser harrt auch Florian Hoffmann, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), dem Herbstbeginn. „Aktuell ist die Lage noch ruhig. Allerdings stehen wir kurz vor der ersten Welle der herbstlichen Virusinfektionen“, sagt Hoffmann. Finanziell sieht Hoffmann die Kinderkliniken dabei schlecht gerüstet: „Sehr viele Kinderkliniken stehen mit dem Rücken zur Wand – und keine Klinik kann aufgrund von beobachteten Personalengpässen und fehlenden Betten reagieren“, so Hoffmann.
Allerdings hat Hoffmann, der auch Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Dritter Orden in München ist, auch eine gute Nachricht für Eltern: „In den zurückliegenden Jahren hat vor allem das RS-Virus für volle Stationen gesorgt. Die inzwischen verfügbare Passiv-Impfung hat die Lage aber deutlich entspannt und bewahrt viele Säuglinge und Kleinkinder davor, eine schwere Infektion der Lunge auszubilden.“
Auch der Verband Leitender Kinder- und Jugendärzte und Kinderchirurgen Deutschlands (VLKKD) weist auf die positiven Ergebnisse der Impfung gegen das RS-Virus hin. „Aktuelle Untersuchungen unter anderem des Robert Koch Instituts (RKI) zeigen eine überzeugende Wirksamkeit der Impfung insbesondere bei den schweren, zum Teil mit einer Behandlung auf der Intensivstation verbundenen Fällen“, heißt es vom VLKKD. Ob – auch im Hinblick auf andere infektiöse Erreger – die Kapazitäten zur Intensivbehandlung von Kindern im Herbst ausreichen werden, seit laut VLKKD jedoch „schwer vorherzusagen“.
Allgemein betrachtet der VLKKD die Lage der Kinderkliniken in Deutschland „mit großer Sorge“. So sei laut dem Verband aktuell „nicht erkennbar, dass die berechtigten Belange von Kinder und Jugendlichen im gesundheitspolitischen Diskurs ernsthaft Berücksichtigung finden“. Da viele Kinderkliniken zweistellige Millionendefizite verzeichnen würden, gerate die Kindermedizin hierzulande „flächendeckend unter zunehmend hohen Druck“.
Zugespitzt hat sich die Lage der Kinder- und Jugendeinrichtungen auch durch neue Krankheitsausprägungen. „Die Probleme der Kinderkliniken beginnen nicht erst im Herbst. Während wir früher im Sommer weniger Patienten hatten, sind die Stationen mittlerweile das ganze Jahr ausgelastet“, sagt Felderhoff-Müser.
„Kindermedizin ist besonders kostenintensiv“
Der Grund dafür liege in der Zunahme der chronischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen: „Krankheiten im Zusammenhang mit krankhaftem Übergewicht, etwa Diabetes, haben stark zugenommen“, sagt die Kinder- und Jugendärztin. Auch psychische Erkrankungen unter Kindern und Jugendlichen zu immer mehr Hospitalisierungen führen.
Die Krux der Kinderkliniken ist dabei, dass man mit mehr Patienten keineswegs mehr Geld verdient: „Kindermedizin ist besonders kostenintensiv. Das beginnt schon bei der Diagnose. Weil Kinder Symptome oft nicht verständlich bezeichnen können, ist es mitunter fast detektivische Arbeit, zu einer Diagnose zu kommen. Das kostet Zeit und kompetentes Personal“, so Felderhoff-Müser.
Diese Zusatzkosten würde die derzeitige Krankenhausfinanzierung aber nicht berücksichtigen. „Die zugestandenen Fallpauschalen für die einzelnen Behandlungen fallen größtenteils aus wie in der Erwachsenenmedizin“, sagt Felderhoff-Müser. Laut der Klinikdirektorin würden die derzeitigen Pläne der Krankenhausreform an den Finanzierungsproblemen der Kinderkliniken nichts ändern. „Ich hoffe, dass Bundesgesundheitsministerin Warken den Ernst der Lage erkennt und hier nachbessert“, so Felderhoff-Müser.
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) teilt dazu mit, dass die Sicherstellung einer „bedarfsgerechten stationären Versorgung der Bevölkerung und damit auch der Kinder- und Jugendmedizin in Krankenhäusern im Rahmen der Krankenhausplanung den Ländern“ obliegen würde. Zugleich sei die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen laut BMG „ein wichtiges Thema für die Bundesregierung“.
„Schon mit dem Krankenhauspflegeentlastungsgesetz wurden zusätzliche Fördermittel in Höhe von 300 Mio. Euro für die Jahre 2023 und 2024 für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen vorgesehen. Mit der Krankenhausreform wurden diese Fördermittel verstetigt: Krankenhäuser erhalten in den Jahren 2025 und 2026 einen pauschalen Zuschlag für die stationäre Versorgung von Kindern und Jugendlichen“, so das BMG. Mit dem Entwurf des Krankenhausanpassungsgesetzes solle der pauschale Zuschlag auf das Jahr 2027 ausgedehnt werden.
Medizinerin und Klinikdirektorin Felderhoff-Müser sieht diese Mittel jedoch als nicht ausreichend an. Sollte die Politik bei der Finanzierung der Kinderkliniken nicht einlenken, fürchtet Felderhoff-Müser drastische Folgen: „Meine große Sorge ist, dass Kindermedizin zunehmend einfach von der Erwachsenenmedizin mitbetreut wird. Das wird den Patienten aber nicht gerecht und könnte sogar gefährlich werden“, so die Kinder- und Jugendärztin.
So wären Kardiologen für Erwachsenenmedizin etwa auf ganz andere Krankheitsbilder geschult als die Fachleute für Kindermedizin. „Infarkte kommen bei Kindern so gut wie nicht vor. Stattdessen gibt es etwa Probleme mit angeborenen Herzfehlern“, sagt Felderhoff-Müser. Doch um die zu erkennen, müssten die Ärzte auch auf solche Krankheitsbilder geschult sein.
Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und Business Insider erstellt.
Andreas Macho ist WELT-Wirtschaftsreporter in Berlin mit dem Schwerpunkt Gesundheit.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke