„Was heißt Kriegstüchtigkeit?“ – so will Reiche Deutschland widerstandsfähiger machen
Katherina Reiche sitzt in einem weißen Sessel in Berlin-Moabit und spricht über den Krieg. „Ich glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger Zeit brauchen, um sich in dieser neuen Welt wiederzufinden“, sagt die Bundeswirtschaftsministerin von der CDU zum Thema der Veranstaltung: es geht um die sogenannte Zeitenwende. Man werde sich künftig mit sehr unbequemen Fragen beschäftigen, sagt Reiche: „Was heißt eigentlich Kriegstüchtigkeit? Was heißt eine Form von Wiederbewaffnung?“.
Kriegstüchtigkeit und Wiederbewaffnung – das waren bisher keine Themen für Bundeswirtschaftsminister. Doch in der aktuellen Lage hat die Rüstungsindustrie für Reiche eine zentrale Bedeutung gewonnen. Angesichts der sogenannten Zeitenwende als Konsequenz aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und der neuen Distanz der USA unter Präsident Donald Trump investiert Europa massiv in die eigene Verteidigungsfähigkeit. Das ist nicht mehr allein ein Thema für die Verteidigungsminister, sondern hat auch handfeste wirtschaftspolitische Aspekte.
In der Berliner Gesprächsrunde mit Siemens-Energy-Chef Christian Bruch und Wolfgang Ischinger, dem Gründer der Münchener Sicherheitskonferenz, macht Reiche diesen Schwenk deutlich. Zwar geht es in der Debatte vor allem um die Sicherheit der Energieversorgung, um Unabhängigkeit von chinesischen Rohstoff-Monopolen und den eigenen Zugriff Europas auf Schlüsseltechnologien beispielsweise für erneuerbare Energie.
Doch all das ist eng verknüpft mit geopolitischen Fragen. Energie und Rohstoffe werden nicht nur von Russland als Waffe benutzt, sagt Reiche auf der Bühne. Sondern auch von China als „sehr scharfes diplomatisches Schwert“.
Und irgendwie hängt alles letztlich mit Wirtschaftspolitik zusammen. „Das ist das Einzige, was Putin beeindruckt: ein wettbewerbsfähiges, starkes Deutschland, das in der Lage ist, sich zu verteidigen und eine starke Industrie zu haben“, so sagt es Reiche. „Nichts anderes, glaube ich, beeindruckt ihn und sein Regime.“ Ziel Nummer eins für die Ministerin ist daher: Wirtschaftswachstum.
Zu diesem Ziel kann auch die Rüstungsindustrie beitragen. „Aufrüstung ist ein sicherheitspolitisches Gebot, es ist aber auch eine wirtschaftliche und technologische Chance für Deutschland“, sagt Reiche kurz nach der Berliner Debatte auf einer Veranstaltung des „Handelsblatts“, zu der sie per Video zugeschaltet ist. Eine Steigerung der Verteidigungsausgaben auf drei Prozent könne das Wirtschaftswachstum um 1,5 Prozent erhöhen. „Deutschland braucht in den kommenden Jahren erheblich mehr Mittel für Investitionen in Sicherheit und Freiheit“, sagt sie. Neue Technologien seien ein entscheidender Faktor in der Branche.
Wie drastisch sich die Industrie verändern muss, erwähnt Reiche in dem kurzen Auftritt aber nicht. Europas Rüstungskonzerne sind im internationalen Vergleich zu klein, die Branche ist zersplittert und in Forschung und Entwicklung wird in dem Bereich hierzulande deutlich weniger investiert als etwa in den USA. Experten fordern deutliche Änderungen an den Rahmenbedingungen für die Waffenindustrie. Auch Staatsbeteiligungen sind immer wieder ein Thema.
Schon jetzt ist der Staat am Radar- und Sensorenhersteller Hensoldt beteiligt, diskutiert wurde ein Einstieg bei Thyssenkrupp Marine Systems (TKMS) und beim deutsch-französischen Panzerbauer KNDS. Reiche, obwohl kritisch gegenüber Staatsbeteiligungen an Unternehmen, hält sich in diesem Bereich zurück. Zuständig für Rüstungsbeteiligungen ist ihr Ministerkollege Boris Pistorius (SPD).
Die Ministerin betont auch stets, dass ihr Haus mit dem Verteidigungsministerium partnerschaftlich zusammenarbeiten wolle. Einen Konfrontationskurs wie mit Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) will Reiche gegenüber Pistorius offensichtlich vermeiden.
Europäische Wiederaufrüstung
Ende der vergangenen Woche hatten alle drei Minister an den deutsch-französischen Regierungskonsultationen in Toulon teilgenommen. Dort ging es unter anderem um die Frage, wie Europa seine Verteidigungsfähigkeit stärken kann. Zu dem Treffen hatte der deutsch-französische Rat der Wirtschaftsexperten ein Papier mit dem Titel „ökonomische Prinzipien für die europäische Wiederaufrüstung“ vorgelegt.
Darin machen die Ökonomen konkrete Vorschläge zu den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen der Rüstungsindustrie. Verfasst haben das Papier unter anderem Xavier Jaravel, dem Chef des Conseil d’Analyse Économoque (dem Pendant der deutschen „Wirtschaftsweisen“) und Moritz Schularick, dem Chef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft.
In das Abschlussdokument des Regierungstreffens haben es die Vorschläge nicht geschafft. Die Minister haben sich lediglich darauf geeinigt, die bestehenden deutsch-französischen Rüstungsprojekte fortzuführen. Das allerdings ist Sache der Verteidigungsminister.
Die Vorschläge der Ökonomen gehen dagegen viel weiter. Sie fordern unter anderem einen einheitlichen europäischen Markt für die Rüstungsindustrie. Bisher ist die Branche laut Artikel 346 des EU-Vertrags explizit von den Regeln des Binnenmarktes ausgenommen. Da eine Vertragsänderung kaum realistisch erscheint, schlagen die Regierungsberater für diesen Bereich einen neuen zwischenstaatlichen Vertrag vor, der „eine Koalition der meisten europäischen Länder zusammenbringen“ würde.
Kleinere Länder, die nicht beitreten möchten, müssten nicht einbezogen werden, heißt es in dem Papier. „Wichtig ist jedoch, dass sowohl die Ukraine als auch das Vereinigte Königreich einbezogen werden könnten und sollten, deren Verteidigungsindustrie für die europäische Wiederaufrüstung von entscheidender Bedeutung ist.“
Außerdem fordern die Ökonomen deutlich mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung im Bereich Rüstung. Während in den USA 15 Prozent des Verteidigungshaushalts für solche Innovationen ausgegeben wird, sind es in Deutschland nur zwei Prozent, in Frankreich 3,5 Prozent. In ihrem Auftritt beim „Handelsblatt“ nennt Reiche diese Zahlen auch – und schließt sich der Forderung im Prinzip an. Ein großer Teil der florierenden Tech-Branche in den USA geht auf Forschungsprojekte aus dem Militärbereich zurück.
Die Ökonomen gehen noch weiter und schlagen „Moonshot-Projekte“ für Europa vor, in den Bereichen KI, autonome Systeme, Weltraum, Hyperschallwaffensysteme und strategische Wegbereiter (Enabler) – „um offensichtliche Schwächen und Abhängigkeiten zu überwinden“. Diese Projekte „werden erhebliche Auswirkungen auf das gesamte Wirtschaftssystem haben“, sagen die Experten voraus. Sie würden dazu beitragen, einen Binnenmarkt für militärische Ausrüstungsgüter zu schaffen.
Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und „Business Insider Deutschland“ erstellt.
Daniel Zwick ist Wirtschaftsredakteur in Berlin und berichtet für WELT über Wirtschafts- und Energiepolitik, Digitalisierung und Staatsmodernisierung.
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