So viel kostet der deutsche Sozialstaat wirklich
Der Kanzler kündigt schmerzhafte Reformen an, da wir uns den Sozialstaat in seinem jetzigen Umfang nicht mehr leisten könnten. Wie groß ist die Belastung des Staates durch die Sozialausgaben überhaupt?
Können wir uns den Sozialstaat in Deutschland im aktuellen Umfang noch leisten? Die Antwort von Bundeskanzler Friedrich Merz darauf ist ein klares "Nein". Dem CDU-Chef zufolge leben wir in Deutschland "über unsere Verhältnisse". Er kündigt schmerzhafte Einschnitte an, konkret vor allem beim Bürgergeld. Dieser Sicht widersprechen unter anderem führende Vertreter von Merz‘ Koalitionspartner SPD. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas nannte die Idee, dass wir uns diesen Sozialstaat nicht mehr leisten könnten, "Bullshit".
Tatsächlich ist das deutsche Sozialsystem teuer, sehr teuer: 2024 betrugen die gesamten Sozialausgaben in Deutschland rund 1.345.400.000.000 oder mehr als 1,3 Billionen Euro. Das sind mehr als 30 Prozent der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP). Im internationalen Vergleich leistet sich Deutschland damit nicht das umfangreichste, aber ein deutlich überdurchschnittlich teures Sozialsystem. Laut den jüngsten europäischen Vergleichsdaten von 2023 hatten etwa Frankreich und Finnland mit über 31 Prozent noch höhere Sozialleistungsquoten, andere Länder gaben dagegen deutlich weniger für ihr Sozialsystem aus. Irland beispielsweise nur 12 Prozent.
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Sozialausgaben in Deutschland vervielfacht. Vor zwanzig Jahren lagen sie mit 664 Milliarden Euro noch etwa halb so hoch wie im vergangenen Jahr. Für die Frage, ob wir uns unser Sozialsystem noch leisten können, ist die Entwicklung dieser absoluten Zahlen allerdings nicht aussagekräftig. Entscheidend ist ihr Verhältnis zur Wirtschaftsleistung. Da das BIP in dieser Zeit ebenfalls stark wuchs, stieg die Sozialleistungsquote vergleichsweise moderat an: von 28,6 Prozent im Jahr 2005 auf einen Rekordwert von 32,5 Prozent im Corona-Jahr 2020, wonach sie wieder leicht absank.
Im Zentrum der jüngsten Debatten und der Reformpläne von Merz‘ schwarz-roter Regierung steht das Bürgergeld. Ein Blick auf die Zusammensetzung der Sozialausgaben zeigt allerdings, dass dieses Thema für die Frage der Tragfähigkeit des gesamten Systems nur eine untergeordnete Rolle spielt. Das Bürgergeld machte 2024 nur 4,2 Prozent des gesamtstaatlichen Sozialbudgets aus. Weit über die Hälfte aller Ausgaben entfielen auf die beiden größten Blöcke, die Renten- und die Krankenversicherung.
Das spiegelt sich auch im Haushalt der Bundesregierung wider: Das Budget des Ministeriums für Arbeit und Soziales ist hier der mit Abstand der größte Einzelposten. Die größten Ausgaben darin entfallen allerdings nicht auf das Bürgergeld, sondern – seit vielen Jahren schon – auf die Zuschüsse zur Rentenversicherung. Diese Zuschüsse allein machen etwa 18,5 Prozent, fast ein Fünftel des gesamten Bundeshaushalts aus. Leistungen gemäß dem Sozialgesetzbuch II, also früher Arbeitslosengeld II und ab 2023 Bürgergeld sowie die Bundeszuschüsse zu den Wohn- und Heizkosten, sind in absoluten Zahlen zwar stark angewachsen, von etwa 26 Milliarden Euro vor zehn Jahren auf 41 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Der Anteil an den Gesamtausgaben des Bundes stieg allerdings deutlich geringer von 8,2 auf rund 8,7 Prozent an. In ihrem Haushalt für dieses und das kommende Jahr geht die Bundesregierung davon aus, dass die Bürgergeldausgaben wieder sinken werden.
"Wörtlich hat der Kanzler nicht recht"
Entscheidend für die Tragfähigkeit des deutschen Sozialsystems sind vor allem die Rentenversicherung und die Krankenkassen, deren Ausgaben hauptsächlich aus den Beiträgen der Versicherten bestritten werden. Bei den Krankenkassen klafft bereits ein Milliardenloch. Experten rechnen mit massiven Beitragserhöhungen für die Arbeitnehmer, wenn es nicht gelingt, den Kostenanstieg durch Reformen zu begrenzen.
In der Rentenversicherung ist es in den vergangenen Jahren gelungen, sowohl die Beitragssätze als auch den Bundeszuschuss im Verhältnis zum Gesamthaushalt stabil zu halten. Ökonomen warnen allerdings vor einer stark steigenden Belastung für das System durch die demografische Entwicklung in den kommenden Jahren, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen und sich das Verhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsempfängern weiter verschlechtern wird. Das Umlagesystem von Renten-, aber auch Kranken- und Pflegeversicherung müsse in den kommenden Jahren grundlegend angepasst werden, sagt etwa der Wirtschaftsweise Martin Werding.
Insgesamt, so Werding gegenüber dem "Stern", treffe es nicht zu, dass der deutsche Sozialstaat nicht mehr finanzierbar sei. Aber das System stehe unter Druck, und dieser Druck werde deutlich zunehmen. "Insofern: Wörtlich genommen hat der Kanzler nicht recht, aber die Diskussion ist angebracht."
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