Polen ziehen zurück nach Polen
Zum ersten Mal seit mehr als 30 Jahren ziehen mehr Polen aus Deutschland zurück in ihr Heimatland als umgekehrt. Es lockt mit Wirtschaftswachstum, schlankerer Verwaltung und niedrigeren Abgaben.
Im Badezimmer demonstriert Zbyszek Perzyna im Kleinen, was aus seiner Sicht alles schief läuft in Deutschland. "Seit elf oder zwölf Jahren haben wir kein kaltes Wasser in der Dusche." Die Folge: Wenn er oder seine Frau Kamila Gierko duschen wollen, drohen Verbrühungen.
Natürlich ist die Dusche nicht der Grund, warum das Ehepaar mittlerweile mit Deutschland fremdelt und zurück nach Polen ziehen will. Aber für die beiden ist die Badezimmerarmatur ein kleines Symbol für Dinge, die hierzulande nicht funktionieren und nicht besser werden.
Viele kleine Dinge
"Viele kleine Dinge - alle zusammen: ein großes Problem", sagt Perzyna. Es gibt auch noch einen Wasserschaden an der Küchendecke, eine nicht funktionierende Gegensprechanlage und diverse andere Probleme, um die sich die Hausverwaltung einfach nicht kümmere, erzählen die beiden. Und duschen könnten sie bis heute nicht, wenn sie sich nicht selbst geholfen hätten.
"Aber ich bin aus Polen", sagt er scherzhaft und meint damit, dass er und seine Landsleute ja Meister im Improvisieren sind. "Ich habe eine Umleitung gebaut, einen speziellen Schlauch für kaltes Wasser." Beide sind selbständig. Gierko als Übersetzerin, Perzyna organisiert internationale Ausstellungen: Banksy, Leonardo da Vinci oder auch mal etwas über Spinnen.
Sie sind gut beschäftigt - und verdienen gutes Geld, zahlen bislang in Deutschland Steuern und Abgaben. Dennoch wollen sie zurück nach Polen, Großraum Warschau. Im Internet suchen sie nach einem kleinen Häuschen. "8.000 Złoty pro Quadratmeter", liest Gierko vor. "Rund 1.800 Euro", erklärt sie. Im Schnitt sind die Preise etwas niedriger als im Speckgürtel rund um Berlin, aber es liegen keine Welten dazwischen.

Kamila Gierko und Zbyszek Perzyna wollen zurück nach Polen und suchen nach einer Wohnung im Großraum Warschau.
Leasingvertrag nach acht Minuten
Einen Kredit zu erhalten, sei kein Problem - zumindest in Polen. Gierko erzählt, in Deutschland habe sie noch nicht mal einen Leasingvertrag für ein Auto bekommen. Sie sei selbständig, wirtschaftlich erfolgreich, zahle hohe Steuern und Fixkosten, etwa an die Krankenkasse - "und trotzdem habe ich als Antwort bekommen, ich sei nicht kreditwürdig".
Leicht ironisch fügt sie hinzu: "Obwohl die Verdienste anscheinend gar nicht so schlecht sind, wenn die Steuern doch relativ ins Eingemachte gehen." Einen Leasingvertrag hat sie dann doch noch bekommen - allerdings nur in Polen. "Telefonisch, nach sieben, acht Minuten maximal", erklärt ihr Ehemann.
Fünf Jahre Berlin waren genug
Schon wieder zurück in Warschau ist Jacek Dehnel. Nicht einmal fünf Jahre hat er es in Berlin ausgehalten. 2020 hatte er Polen verlassen. Wegen der Homophobie in Teilen der Gesellschaft und weil der Kandidat der rechten PiS-Partei die Präsidentenwahl gewonnen hatte.
Dehnel ist Schriftsteller, offen schwul und hat seinen Partner geheiratet. Beide freuten sich damals auf Berlin und Deutschland. Er schätzte vor allem die liberale Offenheit der Stadt. Das Land aber hat ihn ernüchtert.

Jacek Dehnel schätzt die Offenheit Deutschlands, ist aber trotzdem zurück nach Polen.
"Failed State" Deutschland?
"Ich habe den Eindruck, dass Deutschland in Bezug auf die alltägliche Lebensqualität ein 'Failed State' ist", sagt er. Ein "gescheitertes Land" also. Ein Begriff, der in Medien üblicherweise eher für Staaten wie Somalia, den Jemen oder die Demokratische Republik Kongo benutzt wird. Orte, in denen der Staat die Kontrolle über sein Hoheitsgebiet verloren hat also.
Den Begriff "Failed State" will er leicht ironisch verstanden wissen - denn in Deutschland habe der Staat im Gegensatz zu den genannten Ländern eher zuviel Kontrolle als zu wenig. Für alles müsse man einen Antrag stellen, die Ämter seien unkooperativ, bürokratisch - und in der Regel nicht digital zugänglich.
"Der Staat drangsaliert"
Er kann eindrücklich lange Geschichten aus deutschen Amtsfluren erzählen. Sie enden meist damit, dass nichts geklärt wird - oder dass die Lösung darin besteht, denselben Antrag jedes Quartal aufs Neue stellen zu müssen. Und wer auf Englisch etwas wolle, werde mitunter einfach direkt abgewiesen.
Sein Eindruck sei, "dass die deutsche Gesellschaft daran gewöhnt ist, dass der Staat sie auf diese Weise drangsaliert - und das als normal ansieht." Ärger mit irgendwelchen Ämtern sei die Regel, das Steuersystem sei kompliziert. Er konstatiert: "Und alle nehmen das als selbstverständlichen Teil des Lebens hin."
Müdemacher Bürokratie
Dehnel und sein Mann wollten eigentlich noch abwarten, wie sich Polen politisch weiter entwickelt. "Aber der Kampf mit der deutschen Bürokratie war inzwischen so anstrengend, und wir waren so müde von alldem, dass wir entschieden haben, nicht mehr zu warten", sagt er.
Nun sind sie zurück. Dehnel sagt, er habe in Polen eher den Eindruck "eines ständigen Wachstums, der Verbesserung, Modernisierung, Erleichterung und Optimierung des Alltagslebens". Mit Deutschland verbinde er angesichts seiner Erfahrungen hingegen "eine ständige Verkomplizierung, einen schleichenden Verfall".
Zahlen bestätigen den Eindruck - zumindest was das Wirtschaftswachstum angeht. Seit 2015 hat Polen regelmäßig jährliche Zuwächse um die fünf Prozent hingelegt. Deutschlands Rekordjahr in dieser Dekade: plus 2,7 Prozent. Und das ist auch schon wieder acht Jahre her.
Ende des Wanderungspfades?
Im vergangenen Jahr brach den Zahlen zufolge das zusammen, was Demografen und Statistiker einen "Wanderungspfad" nennen: einen langen Trend von Einwanderung aus einem bestimmten Land in ein anderes. Einwanderung mit Tradition also, auf einem Pfad, den zuvor schon viele gegangen sind.
Seit Beginn der 1980er-Jahre hatte Deutschland ein Zuwanderungsplus aus Polen verzeichnet. Nur kurz, Mitte der 1990er-Jahre, ebbte der Zustrom etwas ab. In der Regel aber kamen pro Jahr mehrere Zehntausend Menschen mehr aus Polen nach Deutschland als andersherum. Damit scheint jetzt erst einmal Schluss zu sein: Minus 11.239 Menschen weist das Statistische Bundesamt als Saldo für das vergangene Jahr aus.
Polen holt auf
Nils Witte vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung sieht darin keinen statistischen Ausreißer, eher eine logische Folge der Entwicklung im Nachbarland. Und die ist wirtschaftlich besser als die in Deutschland: "Das ist ja auch etwas, was in der Europäischen Union eigentlich so gewünscht ist, dass sich die Märkte nach und nach angleichen", sagt Witte. "Und genau das passiert."
Die polnische Wirtschaft holt auf zur deutschen. Und bei genauerer Betrachtung der Zahlen zeigt sich, wie sehr die Attraktivität Deutschlands gelitten hat. Witte stellt fest, "dass die Anzahl der Personen, die Deutschland Richtung Polen verlassen, konstant geblieben ist. Was sich verändert hat: es kommen weniger Polen nach Deutschland."
Deutschen Arbeitgebern bereitet das Sorgen, halfen doch die Polen seit Jahren dabei, in vielen Branchen die Unterdeckung an Arbeitskräften zu lindern. In der Pflegebranche, auf dem Bau und in vielen anderen Bereichen.
Vorbild im Osten?
In Brandenburg arbeiten vergleichsweise viele Polen. Manche sind nach Deutschland umgezogen, viele aber pendeln einfach täglich zur Arbeit. Doch es werde immer schwieriger für Arbeitgeber, polnische Angestellte anzuwerben, berichtet André Fritsche, Hauptgeschäftsführer der IHK Cottbus.
Wenn er vom Nachbarland redet, kann man den Eindruck bekommen, dass er ins Schwärmen gerät. "Polen ist weltweit jetzt auf Platz 20 der Weltwirtschaft." Das Land sei inzwischen ganz klar "ein attraktiver Standort für viele, auch wieder zurückzugehen". Polen klingt bei Fritsche fast wie ein Vorbild für Brandenburg: "Das ist etwas, was auch wir natürlich hier in der Region wollen: dass die Menschen wieder zurückkehren."
In Berlin zeigt Zbyszek Perzyna noch einmal auf die defekte Dusche: "Der letzte Fachmann war vor ungefähr zehn, elf Jahren hier, hat sich das angeguckt und gesagt, er muss nochmal etwas aus dem Auto holen", erzählt Perzyna und zuckt mit den Schultern. Sie würden noch heute auf ihn warten.
Mit Material von Magdalena Karpinska, WDR
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke