Chinas neuer Mega-Staudamm wirkt wie eine Katastrophe mit Ansage
China baut in Tibet das größte Staudamm-Projekt der Welt. Eine kühne Wette, denn es handelt sich um ein ökologisches Paradies nahe der indischen Grenze in einem teuflischen Flussabschnitt. Auch die geologischen Risiken sind gigantisch.
Mit einem einzigen Spatenstich besiegelt Chinas Ministerpräsident Li Qiang Mitte Juli den Bau eines riesigen Wasserkraftwerkes, das er selbst als "Jahrhundertprojekt" bezeichnet: Fast 143,8 Milliarden Euro investiert die Volksrepublik in den Bau von zwei Talsperren, fünf Turbinen und mehrere Tunnel - im Süden von Tibet, mitten im Himalaja, an der Grenze zu Indien. Dort, wo der Fluss Yarlung Tsangpo durch die längste und tiefste Schlucht der Welt fließt. Sie erinnert an den Grand Canyon in den USA, ist aber dreimal so tief.
Das Projekt ist eine kühne Wette auf die Fähigkeiten chinesischer Ingenieure. Die Hürden sind riesig, der Lohn aber auch: Fünf hintereinander geschaltete Turbinen sollen einmal 60 bis 70 Gigawatt sauberen Strom erzeugen. Das ist so, als wenn alle polnischen Kraftwerke gleichzeitig laufen.
Den derzeit größten Staudamm der Welt stellt das Nyingchi-Projekt mit dieser Leistung ebenfalls in den Schatten: Sobald der Doppeldamm fertig ist, kann er dreimal so viel Strom erzeugen wie Chinas berühmter Drei-Schluchten-Damm am Jangtse. Der war aber auch deutlich günstiger: 2009 standen bei dessen Fertigstellung 37 Milliarden US-Dollar auf der Endabrechnung.
Beeindruckende Leistung
Riesige Bauten wie das Nyingchi-Projekt werden allein wegen der großen finanziellen Risiken selten in Angriff genommen. Aber im Moment schwächelt die chinesische Wirtschaft. Der Doppeldamm in Tibet kann vielen Branchen, die von der anhaltenden Immobilienkrise in der Volksrepublik betroffen sind, einen Schub verleihen: Das Bauwesen wird profitieren, die Beton- und Stahlindustrie auch. Analysten der Citigroup schätzen, dass allein das Staudammprojekt das chinesische Wirtschaftswachstum im ersten Baujahr um 0,1 Prozentpunkte ankurbeln könnte.
Ein Zeitplan für das Projekt ist bisher nicht bekannt - womöglich, weil Nyingchi abgelegen in gut 3000 Metern Höhe liegt. Die Logistik ist ein großes Problem: Materialien und Arbeiter müssen an dünn besiedelte Orte im Himalaja geschafft werden.
Die beiden geplanten Talsperren sind nicht einmal die größte Herausforderung. Sie sollen nach ihrer Fertigstellung niedriger sein als der berühmte Hoover-Damm, der bereits 1935 bei Las Vegas eröffnet wurde. Die Ingenieure müssen allerdings einen teuflischen Abschnitt des Yarlung Tsangpo meistern: Der Fluss verliert in der Region auf einer Strecke von 50 Kilometern etwa 2000 Höhenmeter. Das macht ihn zum idealen Standort für die Nutzung von Wasserkraft. Gleichzeitig müssen mehrere Flussbiegungen begradigt und zwischen den Talsperren für die Stromerzeugung 20 Kilometer lange Tunnel in das Gebirge gesprengt werden. Dort soll das Wasser in die Tiefe stürzen und am Grund der Schlucht mehrere Turbinen antreiben. Dann fließt das Wasser zurück in den Yarlung Tsangpo.
Hotspot der Artenvielfalt
Ein so großer Eingriff in die Natur schürt Ängste. Chinesische Ökologen bezeichnen die Yarlung-Tsangpo-Schlucht als Hotspot der Artenvielfalt. Ihnen zufolge beherbergt die Schlucht mehr als 4500 Pflanzenarten, darunter einige der ältesten Bäume Asiens - und den höchsten, eine mehr als 100 Meter hohe und wahrscheinlich 1000 Jahre alte Zypresse. Durch die großen Höhenunterschiede gibt es auf wenigen Kilometern Gletschergipfel, Almwiesen, Kiefernwälder und tropische Regenwälder.
Die Schlucht ist außerdem Heimat von Schneeleoparden und Bengalischen Tigern. Laut den Ökologen gibt es nirgendwo auf der Welt eine größere Ansammlung von großen Raubkatzen und Raubtieren. Luchse, Bären, Wölfe, sie alle leben hier.
Die chinesische Führung verspricht, dass Umweltschutz bei dem Projekt oberste Priorität hat, aber kann dieses biologische Paradies eine Invasion von Ingenieuren und Maschinen wirklich überleben?
Indien kocht
Chinesische Ökologen sind nicht die Einzigen, die besorgt auf das Projekt blicken. Auch indische Politiker sind beunruhigt. Nicht wegen der Natur, sondern wegen der Versorgungssicherheit der indischen Bundesstaaten im Nordosten des Subkontinents. Denn wenn der Yarlung Tsangpo das tibetische Plateau und somit China verlässt, fließt er auf indischer Seite weiter bis nach Bangladesch. Auf dem Subkontinent ist der Fluss als Brahmaputra bekannt.
Indische Politiker fürchten, dass China die Talsperren in der Yarlung-Tsangpo-Schlucht künftig als Waffe einsetzen und den nordöstlichen Bundesstaaten im wahrsten Sinne des Wortes den Hahn abdrehen könnte, bis der Brahmaputra austrocknet. Sie fürchten aber auch das andere Extrem, dass China so viel Wasser aufstauen und auf einen Schlag nach Indien spülen könnte, dass die Grenzgebiete Opfer einer "Wasserbombe" werden: Eine Flutwelle, die Hunderttausende Menschen tötet.
Übertriebene Sorgen?
Einige unabhängige Experten teilen die Sorgen. Sie warnen, dass China die Wirtschaft der angrenzenden indischen Bundesstaaten durch ein Aufstauen der tibetischen Flüsse in einen Würgegriff nehmen kann, falls ein Streit zwischen den beiden geopolitischen Gegnern eskaliert. Andere halten solche Aussagen für Panikmache. Sie verweisen darauf, dass die geplanten Talsperren in der Yarlung-Tsangpo-Schlucht im Vergleich zu den Strommengen, die später erzeugt werden sollen, eher klein ausfallen und keine großen Wassermengen aufstauen können. Das Potenzial, flussabwärts Schaden anzurichten, sei begrenzt.
Auch Sorgen um die Versorgungssicherheit sind demnach übertrieben: Der Doppeldamm wird den Angaben zufolge etwa zehn Prozent des Wassers kontrollieren, das anschließend in den Brahmaputra fließt. Stimmt das, könnte China den Fluss gar nicht trocken legen.
Erdbeben sind keine Seltenheit
Deutlich größere Sorgenfalten verursacht ein anderer Aspekt: Tibet liegt an der Grenze von zwei tektonischen Platten. In der seismisch aktiven Region stößt die eurasische auf die indische Kontinentalplatte. Sie sind für die Entstehung des Himalaja verantwortlich. "Wenn ich ein chinesischer Planer wäre, würde ich mir die größten Sorgen über ein großes Erdbeben machen, das den Damm brechen könnte", sagt ein australischer Geomorphologe, der die Entwicklung und Veränderungen der Erdoberfläche erforscht.
Erdbeben sind in Tibet keine Seltenheit. Zuletzt wurde die Region im Januar von einem Beben der Stärke 6,8 erschüttert. Hunderte Häuser wurden zerstört, 126 Menschen kamen ums Leben, fünf Dämme wurden beschädigt. Für die Region ist das dennoch ein glimpflicher Ausgang: 2015 starben im benachbarten Nepal bei einem Beben der Stärke 7,8 knapp 9000 Menschen, mehr als 22.000 wurden verletzt.
Besorgniserregend ist, dass Staudämme die Erdbeben anscheinend verstärken. Wissenschaftler finden immer mehr Hinweise, dass das Gewicht von Stauseen seismische Verschiebungen verursachen kann. Die Rede ist von Reservoir-induzierter Seismizität, also menschengemachten Erdbeben, wie man sie auch vom Fracking kennt: Bereits Mitte der 1930er-Jahre sorgte beim Aufstauen des Reservoirs am Hoover-Damm in den USA eine Serie kleiner Erdstöße für Unruhe.
Auch China hat Erfahrung mit diesem Phänomen. 2008 starben 87.000 Menschen, als die Erde am östlichen Rand des tibetischen Plateaus bebte. Nur zwei Jahre zuvor hatte die Volksrepublik 5,5 Kilometer vom Epizentrum entfernt den 150 Meter hohen Zipingpu-Damm eröffnet. Chinesische Forscher sind überzeugt, dass der Stausee die seismische Aktivität beeinflusst hat.
Verwunderlich ist das nicht. Der Stausee des Drei-Schluchten-Damms am Jangtse ist 150 Meter hoch und länger als der längste der fünf "Great Lakes" (Großen Seen) in den Vereinigten Staaten und Kanada. Seit der Inbetriebnahme des Damms hat sich die seismische Aktivität in der näheren Umgebung versiebenfacht, wie eine Studie chinesischer Forscher aus dem Jahr 2011 zeigt: Zwischen 2003 und 2009 wurden mehr als 3400 Erdbeben registriert.
Riesig und doch winzig
Auch wenn der neue Doppeldamm in der Yarlung-Tsangpo-Schlucht verglichen mit seiner Leistung eher geringe Wassermassen für die Stromerzeugung zurückhält, könnte ein Bruch verheerende Konsequenzen haben. Speziell für die Menschen, die flussabwärts leben, also im Tal des Brahmaputra in den nordöstlichen indischen Bundesstaaten und in Bangladesch:
1975 wütete ein außergewöhnlich starker Taifun in der zentralchinesischen Provinz Henan. Die Shimantan-Talsperre hielt dem Wirbelsturm nicht stand und kollabierte. Eine halbe Stunde später gab flussabwärts der noch größere Banqiao-Staudamm unter dem Druck der Wassermassen nach. Insgesamt wurden 62 Dämme in der Region zerstört. Mehr als 230.000 Menschen starben in den Fluten.
Das ist bisher aber kein Grund für die Kommunistische Partei, die Zahl oder Größe ihrer Staudamm-Projekte zu überdenken. Die Menschenrechtsorganisation International Campaign for Tibet (ITC) sagt, dass die Zahl der bestehenden oder geplanten Talsperren in der Region in den vergangenen Jahren von 114 auf 193 gestiegen ist. Jede Einzelne erhöht die seismische Aktivität.
Im Falle des Nyingchi-Projekts sogar ohne klaren Nutzen: Das amerikanische Wirtschaftsportal Bloomberg berichtet, dass der Strom des Doppeldamms aufgrund der enormen Baukosten nach der Fertigstellung viermal so teuer wäre wie chinesischer Wind- oder Solarstrom. Aufgrund der abgelegenen Lage müssten die Bautrupps zudem lange Hochspannungsleitungen durch das Gebirge legen. Das nächste große Bevölkerungszentrum befindet sich 1200 Kilometer von der Yarlung-Tsangpo-Schlucht entfernt.
Und selbst dann würde der neue Megadamm trotz seiner Leistung für chinesische Verhältnisse vergleichsweise wenig Strom erzeugen: 300 Milliarden Kilowattstunden (300 TWh) Strom decken gerade einmal drei Prozent des jährlichen chinesischen Strombedarfs von 9224 TWh ab. Ob Kosten und Nutzen beim Nyingchi-Projekts im Einklang stehen?
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