Wenn die Genossenschaft plötzlich Wohnungen verkauft
Um künftige Sanierungen finanzieren zu können, plant die Potsdamer Wohnungsgenossenschaft Karl Marx knapp 400 ihrer Eigentumswohnungen zu veräußern. Die betroffenen Mieter wehren sich.
Peter Scheffel sitzt auf dem Balkon seiner Drei-Zimmer-Wohnung in Potsdam-Babelsberg und blättert in einem Ordner. Darin die Ankündigung seiner Wohnungsgenossenschaft Karl Marx, dass die Wohnung, in der er und seine Frau seit 25 Jahren leben, verkauft werden soll.
"Im Urlaub hat uns ein Nachbar geschrieben, dass diese Briefe angekommen sind", erzählt Scheffel, "da sind wir erstmal aus allen Wolken gefallen." Jemals ein solches Schreiben zu erhalten, damit hat der Rentner nicht gerechnet, ist er doch davon ausgegangen, als Genossenschaftsmitglied lebenslang in seiner Wohnung bleiben zu können - mit einer sozialverträglichen Miete.

"Aus allen Wolken gefallen": Mieter Peter Scheffel erlebte nach dem Urlaub eine unschöne Überraschung.
Wirtschaftliche Gründe für Verkaufsabsicht
"Mit unseren rund 6.600 Wohnungen sind wir die größte Genossenschaft in Potsdam", steht auf der Startseite der Karl Marx im Internet. Sie wurde 1954 gegründet. Dass sie jetzt überhaupt 397 Wohnungen zum Kauf anbieten kann, ist eine Folge der Wiedervereinigung.
1990 saßen ostdeutsche Wohnungsverwaltungen und -genossenschaften wie die Karl Marx auf den Verbindlichkeiten aus DDR-Zeiten. Zur Entlastung beschloss die damalige Bundesregierung 1993 das Altschuldenhilfegesetz. Damit verbunden war die Auflage, dass die Betroffenen 15 Prozent ihres Bestandes privatisieren sollten.
Bei der Potsdamer Genossenschaft betraf das 1.126 Wohnungen; 397 davon musste sie nach einer späteren Änderung des Gesetzes nicht mehr verkaufen. Diese sind bis heute - als Eigentumswohnungen ausgewiesen - weiter im Bestand der Genossenschaft.
Dringend nötige Modernisierungen
Jetzt hat die Vertreterversammlung beschlossen, diese Wohnungen zu verkaufen. Aktuell sei die Genossenschaft durch die Energie- und Wärmewende stark gefordert, heißt es in der Mitteilung über den Beschluss. Auch müssten in den kommenden Jahren alle Versorgungsstränge saniert und ein Teil des Bestandes altersgerecht umgebaut werden.
Diese Investitionen wolle sich der Vorstand bei den in Rede stehenden Wohnungen sparen. Dabei gehe es um einen zweistelligen Millionenbetrag in den kommenden 20 Jahren, sagt Bodo Jablonowski, der kaufmännische Leiter. Die Summe wolle man lieber dem Gesamtbestand der Wohnungen zugutekommen lassen, um dort weiterhin bezahlbaren Wohnraum für die Genossenschaftsmitglieder zu sichern.
Zwischen genossenschaftlich und wirtschaftlich
Die Konstellation bei der Karl Marx sei außergewöhnlich, sagt Matthias Brauner, der Brandenburg-Beauftragte beim Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen. Dabei spielten auch die weiterhin hohen Anforderungen für die Sanierung der Gebäude- und Wärmeversorgung im Zuge der gesetzlich geforderten Dekarbonisierung bis 2045 eine Rolle sowie die aktuell unattraktiven Förderregelungen. Hier müsse der Gesetzgeber etwas tun, meint Brauner.
"Die Genossenschaften sind von den Herausforderungen am Wohnungsmarkt genauso betroffen wie alle anderen", erklärt Winfried Kluth, Professor für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er forscht ebenfalls zum Genossenschaftswesen.
Die Genossenschaftsidee sei ja, dass man Selbsthilfe im Markt und im Wettbewerb ermögliche. Wenn die Rahmenbedingungen schwieriger würden, dann werde es auch für das Genossenschaftsmodell schwieriger. Dies sei ein solidarisches Wirtschaften, aber im Rahmen einer Marktwirtschaft, wo es eben Preise und Kostensteigerungen gebe.
Sozialverträgliches Vorgehen ist geplant
Die Wohnungsgenossenschaft will zunächst leerstehende Wohnungen verkaufen. Bewohnte sollen den Mietern zum Kauf angeboten werden, dann deren nächsten Verwandten, danach anderen Genossenschaftsmitgliedern und erst zuletzt außenstehenden Privatpersonen, erläutert Vorstand Jablonowski. Auf keinen Fall sollen Investoren zum Zuge kommen, versichert er.
Mieter, die nicht kaufen wollen, sollen drei vergleichbare Ersatzwohnungen angeboten bekommen, auch werde der Umzug bezahlt, und für fünf Jahre bestehe ein Schutz vor Eigenbedarfsklagen und Mietsteigerungen. Geplant sei, den Verkauf innerhalb von zehn Jahren abzuschließen.
Die Preise stünden noch nicht fest, sagt Jablonowski, sollen aber marktüblich sein. In Potsdam bewege sich das in den in Frage kommenden Stadteilen gerade zwischen 2.200 und 4.000 Euro pro Quadratmeter.
Mieter wollen sich gegen Verkauf wehren
Genossenschaftler Peter Scheffel lässt sich auch durch das Kaufangebot nicht von seiner ablehnenden Haltung abbringen. Als Rentner könne es sich nicht leisten, seine Wohnung zu kaufen. Auch würde er gar keinen Kredit mehr bekommen, und die Sanierungskosten kämen auf ihn zu.
Ähnlich argumentiert auch Hans-Peter Schubert. Der 70-jährige sei praktisch hier aufgewachsen und könne sich nicht vorstellen, weg zu ziehen. Er hat jetzt eine Petition gegen den Verkauf gestartet und bisher mehr als 1.000 Unterschriften gesammelt. Ihm gehe es darum, dass bezahlbarer Wohnraum in Potsdam erhalten bleibe, sagt Schubert, da sollten die Genossenschaften eigentlich Vorreiter sein und auch genossenschaftlich mit den Leuten umgehen. Das sehe er derzeit nicht.
Die Genossenschaft will jetzt auf alle Betroffenen zugehen und Gespräche führen. Die ersten leerstehenden Wohnungen sollen frühestens im September zum Kauf angeboten werden.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke