Deutsche arbeiten (fast) so viel wie nie
Die Vorstellung, die Deutschen arbeiteten besonders wenig, beruht auf einem unsinnigen Vergleich. Tatsächlich beläuft sich das Arbeitsvolumen auf Rekordniveau. Dennoch gibt es viele Menschen, die mehr arbeiten möchten. Die Politik hat es in der Hand.
Mit ihrer Forderung: "Wir müssen mehr und länger arbeiten", hat Wirtschaftsministerin Katherina Reiche wieder einmal die Debatte über die angeblich geringen Arbeitszeiten in Deutschland angeheizt. Auch Friedrich Merz blies kürzlich fast wortgleich ins selbe Horn: "Wir müssen wieder mehr und vor allem länger arbeiten", so der Bundeskanzler und erteilte Wünschen nach Work-Life-Balance und Vier-Tage-Woche eine Absage. Was weder Kanzler noch Ministerin oder Unternehmer-Lobbyisten erwähnten: In Deutschland wird - in Stunden gemessen - viel mehr gearbeitet als noch vor einigen Jahren.
Immer wieder wird in der Diskussion eine Zahl angeführt, die auch Ministerin Reiche für ihre Argumentation nutzte: Unternehmen hätten ihr berichtet, dass ihre Beschäftigten am US-Standort 1.800 Stunden pro Jahr arbeiteten, in Deutschland aber nur 1.340 Stunden. "Im internationalen Vergleich arbeiten die Deutschen im Durchschnitt wenig", kritisierte Reiche.
Diese durchschnittlich pro Erwerbstätigem im Jahr geleisteten Arbeitsstunden stammen von der Industrieländerorganisation OECD und sind schon einige Jahre alt. Aktuell sind sie sogar auf nur noch 1332 Stunden gesunken. In keinem anderen Industrieland arbeiten die Erwerbstätigen pro Kopf so wenig.
Diese Zahl ist korrekt, aber zum einen warnt selbst die OECD, dass die Zahlen zwischen den Ländern kaum vergleichbar sind, da sie auf völlig unterschiedliche Art und Weise erfasst werden. Zum anderen sagt sie wenig darüber aus, wie viel die Deutschen arbeiten. Das lässt sich besser am Arbeitsvolumen ablesen, der Gesamtzahl aller in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden. Diese Zahl ist über Jahr kontinuierlich gestiegen und erreichte 2023 mit 61,4 Milliarden Stunden den höchsten Wert in der Geschichte der Bundesrepublik. 2024 ging das Arbeitsvolumen minimal um 0,1 Prozent zurück. Es liegt aber immer noch weit höher als etwa vor 20 Jahren mit damals rund 56 Milliarden Stunden.
Potenzial bei Teilzeitbeschäftigten
Wie kommt es zu dem vermeintlichen Widerspruch zwischen der geringen Arbeitszeit pro Erwerbstätigen und der hohen Gesamtarbeitszeit? Das ist damit zu erklären, dass in Deutschland deutlich mehr Menschen arbeiten als in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, vor allem mehr Frauen und ältere Menschen als früher. Auch bei Jüngeren, der sogenannten Generation Z, ist die Erwerbsbeteiligung laut dem Chef des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Enzo Weber, so hoch wie bei keiner Generation zuvor. Weil aber ein Teil dieser zusätzlichen Beschäftigten Teilzeit arbeitet, sinkt die durchschnittliche Arbeitszeit pro Kopf - auch wenn die Vollzeit-Tätigen etwa in gleichem Umfang weiterarbeiten.
Die Statistikerin Katharina Schüller hat die OECD-Zahlen schon vor Jahren in einem Beitrag für das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung zur "Unstatistik" erklärt. Um beim Vergleich mit den anderen Industrieländern den Anschluss zu schaffen, müsste "einfach nur jeder Teilzeitbeschäftigte ab morgen zu Hause bleiben", schreibt Schüller, um die Unsinnigkeit der Argumentation mit diesen Zahlen zu verdeutlichen.
Heißt das allerdings auch, dass die Deutschen genug arbeiten, um ihren Wohlstand langfristig zu erhalten oder besser zu steigern? In den kommenden Jahren werden Millionen von Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge den Arbeitsmarkt verlassen, ohne dass auch nur annähernd ausreichend junge Menschen nachrücken. Das Verhältnis von Beitragszahlern im Rentensystem zu Beitragsempfängern wird sich dramatisch verschieben. Experten sehen allerdings auch noch großes Potenzial im deutschen Arbeitsmarkt, ohne dass Urlaubsansprüche gekürzt, Feiertage gestrichen oder auf andere Weise die Arbeitszeit zwangsweise erhöht werden müsste. Umfragen zufolge möchte ein erheblicher Teil der Teilzeitbeschäftigen gerne mehr arbeiten. Mangelnde Kinderbetreuung oder steuerliche Fehlanreize verhindern das oft. Statt Forderungen an die Arbeitnehmer zu richten, könnten Kanzler und Wirtschaftsministerin hier selbst die Initiative ergreifen.
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