Mit Millionen des Bundes hätte Deutschland die Digitalisierung der Gesundheitsämter auf ein neues Niveau heben können. Doch Überforderung und Kleinstaaterei haben den großen Wurf bei der Digitalisierung verhindert, wie MDR-Recherchen zeigen.

Sie sind die erste Instanz im Pandemiefall. Sie prüfen Kitas und Seniorenheime, überwachen Restaurants und erfassen Infektionsketten. Und sie hüten sensibelste Daten von Millionen von Bürgern. Doch zur besonders geschützten "kritischen Infrastruktur" gehören Deutschlands Gesundheitsämter nicht.

"Gruselig" findet das der IT-Sicherheitsexperte Manuel Atug von der "AG Kritis", einem Zusammenschluss von Expertinnen und Experten rund um die kritische Infrastruktur. Da Gesundheitsämter nicht zur kritischen Infrastruktur zählen, müssten sie weder Schwachstellen noch Systemeinbrüche verpflichtend melden - oder sich aller zwei Jahre einer externen Prüfung unterziehen. So werde die Größe des Problems gar nicht erst sichtbar.

 

800 Millionen für Digitalisierung

Viele Jahre wurde das Problem vernachlässigt. Dann kam Corona. Und mit dem Virus: überlaufende E-Mail-Fächer, zusammenbrechende Telefonanlagen und Papierberge, die eine Kontaktverfolgung unmöglich machten. Spätestens als Deutschlands Gesundheitsämter die Corona-Pandemie mit dem Fax-Gerät bekämpfen wollten, wurde auch einer breiten Öffentlichkeit klar: Wenn Deutschland sein öffentliches Gesundheitswesen nicht modernisiert und digitaler macht, gefährdet das Menschenleben - eine Frage, die in Zeiten von Cyberangriffen aus dem Ausland noch mehr Relevanz bekommt.

Mit vier Milliarden Millionen Euro wollte der Bund das nach der Pandemie richten - Geld, das mit dem "Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst" in das Gesundheitssystem gepumpt wurde. 800 Millionen Euro sollten in die Digitalisierung gehen, der Löwenanteil (80 Prozent) davon über ein Förderprogramm in Länder und Kommunen fließen.

 

488 Modellprojekte

488 Projekte wurden damit initiiert, allein 418 davon sogenannte Modellprojekte - beantragt von einer oder mehreren Kommunen. Drei dieser Projekte betreut Matthias Herrling. 880.000 Euro landeten dafür bei ihm, genauer gesagt: Im Gesundheitsamt des Kyffhäuserkreises, in dem Herrling als Informatiker arbeitet. "Der Pakt für den ÖGD hat uns definitiv dazu geführt, dass wir papierloser sind, dass wir digitaler arbeiten können", sagt Herrling.

Als er 2021 in Sondershausen anfing, sei alles papierbasiert gewesen, erinnert Herrling sich. Es fehlten Standards zum Datenaustausch, die Gesundheitsämter waren digitale Inseln: "Jeder hatte eigene Systeme und das Einzige, was wirklich bei allen gleich war, war das Faxgerät und die E-Mail-Adresse. Das hat sich durch Corona und durch das viele Geld, was in den ÖGD gepumpt wurde, natürlich drastisch geändert."

Doch weil Herrling auch Sprecher im Fachausschuss Digitalisierung des Thüringer BVÖGD ist, einem Berufsverband im öffentlichen Gesundheitsdienst, hat er einen breiteren, kritischeren Blick auf das Geschehen: Weil die meisten Kommunen ähnliche Probleme hatten, hätten sie auch ähnliche Ziele verfolgt. Am Ende hätten "alle die gleichen Projekte initiiert", sagt er. Koordiniert habe das niemand.

"Ein-Land-für-Alle"-Maßnahme

Genau das gleiche Problem gab es auch auf der Länderebene: Auch dort hätte man gemeinsame Lösungen für gemeinsame Probleme entwickeln können. Die Kommunen jedenfalls würden sich wünschen, dass ganz Deutschland ein einheitliches Fachverfahren benutzt, sagt Herrling, aber: "Da haben sich sehr viele dagegen gesträubt und haben primär eine Lösung für sich gesucht."

Die Folge: drei verschiedene Länder beauftragten jeweils unterschiedliche Fachanwendungen, die im Prinzip das gleiche leisten sollen. Fördersumme: mehr als 100 Millionen Euro. Vier Bundesländer entwickeln außerdem bereits vorhandene Fachanwendungen weiter. Insgesamt fließen rund 155 Millionen in Projekte um diese komplexen Fachanwendungen.

Wäre es nicht möglich gewesen, dass ein Bundesland gemeinsam mit und für weitere Bundesländer entwickelt, also eine "Ein-Land-für-Alle"-Maßnahme? Schließlich gibt es dafür sogar eine eigene Abkürzung auf der Webseite des Bundesgesundheitsministeriums: ELFA. 

Viele Ideen, wenig Koordination

Die Gesundheitsministerkonferenz (GMK) verneint. Während der Antragsphase hätten die Länder einander ihre Projekte vorstellen müssen, um Synergien zu erkennen, heißt es in einer Antwort des Thüringer Gesundheitsministeriums im Namen der GMK. Dabei sei festgestellt worden, dass gemeinsame Verfahrenslösungen nicht möglich seien.

Und so kommt es, dass sich die neuen Anwendungen in Bedienoberfläche und Funktionen ähneln, sich technisch aber unterscheiden. In Hessen setzt man auf Open Source, also Software, deren Code öffentlich ist und von allen eingesehen, genutzt und verbessert werden kann. Baden-Württemberg und Thüringen hingegen setzen auf geschlossene Systeme einzelner Hersteller, die neu entwickelt werden oder wurden. 

War der Aufwand für eine ELFA-Koordination schlicht zu hoch? Waren die Länder in der Corona-Krise überfordert? Wollten sie langwierige Koordinierungen und Abstimmungen vermeiden? Klar wird aus einer MDR-Abfrage unter allen 16 Gesundheitsministerien: Einige bewerten die Frist zur Antragsstellung damals als eine ziemliche Herausforderung.

Viele hätten in der Phase der Ausschreibungen ähnlich gute Ideen gehabt, meint Peter Tinnemann, Leiter des Gesundheitsamtes Frankfurt am Main. Nun sei es im Rahmen der Projektausschreibung zwar klar ausgeschlossen gewesen, gleiche Ideen doppelt zu fördern, aber im Ergebnis sei genau das passiert: "Wie es dazu kam, dass jetzt doch gleiche Projekte an den Start gegangen sind, ist schon ein bisschen verwunderlich", so Tinnemann. Ihm sei schleierhaft, wie es trotz anderer Vorgaben zu Doppelförderungen kommen konnte.

 

Von der Digitalisierung "noch weit entfernt"

Haben die Millionen wenigstens für den lange ersehnten Digitalisierungsschub gesorgt? Thomas Meuche vom Kompetenzzentrum Digitale Verwaltung der Hochschule Hof glaubt das nicht: "Wir sind in den Systemen hängen geblieben, die wir eigentlich schon immer haben", sagt er. Eigentlich gehe es derzeit um das kritische Hinterfragen von Prozessen. Doch schlechte Prozesse würden weder durch Digitalisierung noch durch KI besser.

"Vom Zustand des Digitalen sind wir noch weit entfernt", so Meuche. Das schwäche das Vertrauen in den Staat mit fatalen Folgen: Unternehmen und Bürger nähmen den Staat als dysfunktional wahr. "Das ist demokratiegefährdend. Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass der Staat eigentlich nicht mehr in der Lage ist, ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, dann lehnen sie ihn ab. Das ist die Situation, die wir momentan beobachten."

Hinzu kommt: In den meisten Bundesländern können die Gesundheitsämter frei entscheiden, was sie verwenden. So gibt es heute in Hessen vier Gesundheitsämter, die sich für die in Frankfurt entwickelten Software gar nicht erst interessieren. Verpflichtet zur Nutzung sind sie nicht.

In Thüringen, wo man auf eine eigene Neuentwicklung setzt, ist das nicht anders. "Sofern die fertig wird und fertig ist, getestet ist und man sich einig ist, wie die ganze Finanzierung läuft, werden die Gesundheitsämter dann überlegen, ob sie ihre Fachanwendung wechseln oder ob sie bei ihrer alten Fachanwendung bleiben", so Herrling.

 

Digitalministerium will nicht koordinieren

Dabei hätte man es besser wissen können: 2021 wurden von der "Gesellschaft für Informatik" und dem "Deutschen Städtetag" gemeinsam die "Dresdner Forderungen" veröffentlicht; im vergangenen Jahr wurden sie erneuert: "Viele Leuchttürme machen uns nicht dauerhaft digitaler, wenn sie alle immer wieder abgeschaltet werden", heißt es darin.

Schon drei Jahre zuvor hatte der Nationale Normenkontrollrat, der die Bundesregierung zum Bürokratieabbau berät, in einem Positionspapier angemahnt: "Wenn jeder eigenständig agiert, kann aus Vielfalt jedoch auch Chaos erwachsen."

Hoffnung lag zuletzt auf dem neuen Digitalministerium. Das will "geeignete Verwaltungsleistungen bündeln und in die Verantwortung des Bundes überführen", so eine Sprecherin gegenüber MDR Investigativ. Doch bei den Gesundheitsämtern will man sich nicht einmischen: Diese fielen in alleinige Zuständigkeit der Länder, heißt es aus dem Ministerium. Eine Koordinierungsfunktion werde man nicht einnehmen.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke