«Setz dich hin», ruft Seenotretter Tanguy in Richtung des kleinen Flüchtlingsboots. Es ist kaum grösser als ein Auto und liegt tief im Wasser. Etwa 50 Menschen sitzen darauf. Die Nacht im Mittelmeer ist stockdunkel.

«Grazie mille», kommt es in gebrochenem Italienisch zurück. Menschen aus Bangladesch, Pakistan und Ägypten sehen im Suchscheinwerfer gerade ihre Träume in Erfüllung gehen. Hier, etwa 150 Kilometer vor der libyschen Küste, im Zentralen Mittelmeer. Aber Tanguy antwortet kühl: «Noch sind wir nicht angekommen».

Die Seenotretter der Seenotrettungs­organisation SOS Méditerranée befürchten, das Flüchtlingsboot könnte kentern, wenn die Geflüchteten unruhig werden. Sie nähern sich dem Flüchtlingsboot nur von hinten. Ein Flüchtling nach dem anderen soll so übersteigen, die Gruppe kontrolliert werden können. Geduld ist gefragt.

Flüchtlingszahlen gehen stark zurück

Hier, im Zentralen Mittelmeer, wirkt die europäische Grenzschutz- und Migrationspolitik. Die Küstenwachen von Tunesien und Libyen sollen die Menschen von der Überfahrt abhalten. Dafür erhalten sie Geld und Ausrüstung aus Europa.

Tatsächlich ist im letzten Jahr die Zahl der Menschen, die aus Tunesien nach Italien gelangen, nach Angaben der EU-Grenzschutzagentur um 90 Prozent zurückgegangen, innert Jahresfrist. Und auch die Überfahrten aus Libyen sind stark rückläufig im Vergleich zu 2023.

Aber das Zentrale Mittelmeer ist 2025 die am stärksten genutzte Route für irreguläre Migration nach Europa. Und Seenotrettungs­organisationen wie SOS Méditerranée sagen: Sie sei zuletzt noch tödlicher geworden. Täglich verschwanden 2024 im Mittelmeer etwa vier Menschen – sie ertrinken oder gelten als vermisst. Der Anteil der Vermissten an der Gesamtzahl der Flüchtlinge ist angestiegen.

Unbekanntes Schnellboot taucht auf

Beim Rettungseinsatz im Mittelmeer kommt plötzlich Unruhe auf. Die Brücke meldet über Funk, auf dem Radar sei ein Schnellboot aufgetaucht. Es nähere sich rasch, aus Richtung der libyschen Küste: «Geschätzte Ankunftszeit: Sieben Minuten».

Die Seenotretter befürchten, dass es sich um die libysche Küstenwache handelt. Die geht kompromisslos gegen Geflüchtete vor und schafft diese wieder zurück nach Libyen. In ein Land, in dem es laut dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge zu systematischer Gewalt gegen Flüchtlinge, zu Versklavungen und Folter kommt.

In einem Bericht aus dem Jahr 2023 heisst es, es gebe Grund zur Annahme, dass staatliche Sicherheitskräfte und bewaffnete Milizen eine breite Palette von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hätten. Über 90 Prozent der Frauen und Mädchen würden Opfer sexueller Gewalt. Nicht immer ist klar, wer die Grenzschützer kontrolliert. Im vom Bürgerkrieg zerrütteten Libyen buhlen zwei Regierungen und zahlreiche Milizen um Macht und Einfluss.

Flüchtlinge gehen immer grösseres Risiko ein

Die Seenotretter berichten von rücksichtslosen Einsätzen. Mit schnellen Manövern und viel Wellenschlag würden die libyschen Boote Panik unter den Geflüchteten auslösen. Während Rettungseinsätzen sei auch schon geschossen worden, berichtet die Crew der «Ocean Viking».

Die haben den Tod einer Rückführung nach Libyen vorgezogen.
Autor: Angelo Such- und Rettungskoordinator, M/V Ocean Viking

«Vor einigen Tagen hat ein Rettungsschiff fünf Menschen gerettet, die von einem libyschen Boot ins Wasser gesprungen sind», sagt Angelo, der Such- und Rettungskoordinator an Bord der «Ocean Viking». Wie alle anderen tritt er nach einem Angriff der Identitären Bewegung auf das Hauptquartier von SOS Méditerranée in Marseille nur noch mit Vornamen auf. «Diese Menschen haben ihr Leben riskiert», sagt Angelo, «die haben den Tod einer Rückführung nach Libyen vorgezogen».

«Ihr bewegt euch verdammt nochmal nicht!»

Auf dem Wasser erhöhen die Seenotretter deshalb das Tempo – und das Risiko. Sie fahren jetzt seitlich an das Flüchtlingsboot heran, um das Manöver zu beschleunigen. «Ich will, dass ihr sitzen bleibt, bis ich euch sage, ihr könnt rüberkommen», ruft Tanguy den jungen Männern zu.

Aber Euphorie und Sprachbarriere wirken stärker: Zwei junge Bangladeschi springen sofort über. Andere wollen folgen – und beide Boote schwanken bedrohlich. Tanguy reisst die Augen auf und wird laut: «Du gehst zurück auf das Flüchtlingsboot, jetzt!», schreit er einen jungen Mann an.

«Bis ich euch sage, ihr bewegt euch, bewegt ihr euch verdammt nochmal nicht!», sagt Tanguy. «Ist das klar?» Kleinlaut kommt ein «Ok» vom Boot zurück. Dann darf einer nach dem anderen übersteigen.

Vor allem junge Männer

108 Menschen holen die Seenotretter in dieser Nacht aus zwei Flüchtlingsbooten. Die Gruppe entspricht ziemlich genau den Migrationsstatistiken.

Viele Menschen aus Bangladesch und Pakistan. Dazu solche aus Somalia, dem Iran oder Eritrea. Meistens sind es junge Männer, etwa ein Viertel ist minderjährig. Nur eine Frau ist mit ihrem elf Monate alten Baby mit dabei.

Das unbekannte dritte Boot ist bis auf 200 Meter an die «Ocean Viking» herangefahren. Jetzt treibt es unbeleuchtet im Schutz der Dunkelheit. Und scheint abzuwarten. Ein Boot der Küstenwache scheint es nicht zu sein, eher ein Begleitfahrzeug der Schlepper.

Seenotfall fährt davon

Nach der Rettung bleiben auf den beiden Flüchtlingsbooten Männer zurück, mit einer schwarzen Maske, tief ins Gesicht gezogen. Sie wollten nicht gerettet werden, erklären sie. Dann starten sie die Maschinen und fahren mit den leeren Booten wieder zurück Richtung Libyen.

Ein Seenotfall, der nach dem Rettungseinsatz davonfährt? Wie kann das sein?

Der Seenotfall definiert sich nicht darüber, ob das Boot noch fahren kann.
Autor: Valeria Taurino Direktorin, SOS Méditerranée Italien

Die Frage geht am Morgen danach an Valeria Taurino, Direktorin von SOS Méditerranée Italien. Sie ist ebenfalls an Bord der «Ocean Viking» und sagt: «Der Seenotfall definiert sich nicht darüber, ob das Boot noch fahren kann.» Andere Faktoren seien ausschlaggebend. Ist das Boot überfüllt? Sind ausreichend Rettungswesten an Bord? Das seien die entscheidenden Fragen, vorgegeben vom internationalen Seerecht, so Taurino.

Die Retter stellen klar: Überfüllte, seeuntaugliche Boote, 150 Kilometer vor der Küste seien eindeutig ein Seenotfall. Dennoch sind diese neuen Run-Away-Boote, wie die Seenotretter sie nennen, eine Herausforderung. Sie sind schnell und fahren aktiv in die Nähe der Rettungsschiffe. So liefern sie die Geflüchteten fast schon bei ihren europäischen Rettern ab. Etwa eines von sechs Flüchtlingsbooten sei derzeit mit einem solchen Fahrer besetzt.

«Taxis der Meere»

Das erhöht den politischen Druck: Schon bevor diese Boote auftauchten, warf die rechte italienische Premierministerin Giorgia Meloni den Seenotrettern vor, sie seien «Taxis der Meere». Mit diesen Booten steuern die Seenotretter nun tatsächlich auf eine ungewollte Kooperation mit den Schleusern zu.

Die Menschen fahren sowieso los. Denen ist egal, ob wir da sind oder nicht.
Autor: Valeria Taurino Direktorin SOS Méditerranée Italien

Aber deswegen auf die Rettungseinsätze zu verzichten, sei keine Option, sagt Valeria Taurino. «Die Menschen fahren sowieso los. Denen ist egal, ob wir da sind oder nicht.» Ansonsten, argumentiert die SOS-Direktorin, gäbe es keine Schiffbrüchigen. Aber die Seenotretter könnten längst nicht alle retten.

Die humanitären Helfenden berufen sich auf eine der ältesten Pflichten der Seefahrt: Menschen in Seenot muss man helfen. Ungeachtet der Umstände, aus denen die Seenot entstanden ist.

Einfluss der Seenotretter auf die Migration umstritten

Die Frage, ob Rettungsorganisationen wie SOS Méditerranée im Mittelmeer die gefährlichen Fluchtversuche noch befördern, ist umstritten. Internationale Studien legen nahe, dass die Abfahrten vor allem von anderen Faktoren getrieben sind: vom Wetter oder von der Sicherheitslage in Nordafrika etwa.

Die Zahl der Toten und der gesunkenen Schiffe steigt, wenn es keine Seenotretter mehr gibt.
Autor: Judith Kohlenberger Migrationsforscherin, WU Wien

Die österreichische Migrationsforscherin Judith Kohlenberger sagt: «Wir haben keinen empirischen Beweis, dass es zu keinen Überfahrten kommt, wenn keine Seenotretter unterwegs sind.» Was aber erwiesen sei: «Die Zahl der Toten und der gesunkenen Schiffe steigt, wenn es keine Seenotretter mehr gibt.»

Neben den Libyern bereitet Valeria Taurino auch die italienische Regierung Kopfzerbrechen. Denn die italienischen Gesetze verpflichten Schiffe wie die «Ocean Viking», nach der ersten Rettung sofort einen Hafen anzulaufen, auch wenn es an Bord noch Platz gäbe für weitere Geflüchtete.  

«Die weisen uns immer weiter entfernt liegende Orte als sichere Häfen zu. Das ist ein politischer Entscheid, der sehr direkt unsere Rettungskapazitäten reduziert.» Nach jedem Einsatz fährt das Rettungsschiff drei bis vier Tage in den Norden des Stiefels oder in die Adria. Danach wieder drei bis vier Tage zurück ins Einsatzgebiet.

Die Seenotrettungs­organisationen sagen: Die neue Taktik der Schlepper und die italienischen Gesetze führten zusammen dazu, dass sie Menschen in noch schlechteren Booten, ohne Fahrer, die seit Tagen auf dem Mittelmeer treiben und Hilfe brauchten, weniger gut erreichen würden.

Gewalt, Folter, Erpressung an der Tagesordnung

Abgelegt haben die Menschen aus den beiden Booten alle am späten Abend in Libyen, nahe der Stadt Sabratha. Einige, wie Abdulrahman (Name geändert) haben jahrelang versucht, aus Libyen wegzukommen. Was Abdulrahman erzählt, lässt sich in den Einzelheiten nicht überprüfen. Aber die Schilderungen der Geflüchteten ähneln sich. Und sie gleichen den Berichten von Nicht-Regierungsorganisationen und den Vereinten Nationen.

Abdulrahman spricht von einem Kreislauf aus Gefangennahme, Erpressung und Freilassung. Neben den Schleppern seien auch Behörden und Küstenwache Teil dieses Systems. Besonders menschenverachtend und traumatisierend ist die Praxis, dass Gefangene bei Folter, Vergewaltigungen und selbst Hinrichtungen anderer zusehen müssen.

Legende: Gewalt, Folter und willkürliche Tötungen von Migranten gibt es in Libyen regelmässig. Das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen spricht von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Javier Alvarez / SOS Méditerranée

«Manchmal haben die auch Stromkabel genommen und an die Menschen angeschlossen – dann haben sie ein Video gemacht und es der Familie geschickt», sagt Abdulrahman.

Libyen verändere die Menschen

Oft gehe es nur darum, weiteres Geld abzupressen für eine Freilassung. «Einer meiner Freunde starb vor meinen Augen. Die haben ihn getötet. Aber sogar wenn du tot bist, versuchen sie von deiner Familie noch Geld abzupressen. Die sagen dann einfach: ‹Ja klar, dein Sohn ist noch am Leben›.»

Libyen ist kein Platz für Menschen, für niemanden.
Autor: Nishad Geflüchteter aus Bangladesch

Libyen verändere die Menschen, sagt Abdulrahman. Und Nishad (Name geändert) aus Bangladesch sagt: «Libyen ist kein Platz für Menschen, für niemanden. Wenn du da nur einen Tag verbringst, wirst du verrückt.»

Nach fünf Tagen an Bord betreten die beiden gemeinsam mit den 106 weiteren Geretteten in Ortona italienischen Boden. Das lang ersehnte Europa – in dem aber niemand auf sie gewartet hat. Dort können sie bei den italienischen Behörden einen Asylantrag stellen.

Angekommen sind sie auch hier noch lange nicht.

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