Der Historiker und Publizist Sebastian Haffner hat 1932 einen wunderschönen Roman geschrieben, der erst jetzt erschienen ist. "Abschied" passt bestens in unsere Gegenwart, weil er zeigt, wie schnell alles vorbei sein kann. Ein Meisterwerk voller Schönheit und Leichtigkeit.

Als Sebastian Haffner noch Raimund Pretzel hieß, emigrierte er nach England, wo seine jüdische Verlobte auf ihn wartete. Ein Jahr später - im Sommer 1939 - beendete er den Text, der wie wohl kein anderer aus eigenem Erleben heraus erklärt, wie es Hitler, "das Monstrum", gelang, eine ganze Nation mit dem "Zauber des Ekelhaften" zu verführen und zu Krieg, Rassenwahn und Massenmord anzustiften. Haffner, einer der bedeutendsten Historiker und Publizisten der Nachkriegszeit, hatte seine "Geschichte eines Deutschen" offenbar für zu unbedeutend gehalten, sie drucken zu lassen. Das Werk wurde im Spätsommer 2000 veröffentlicht - eineinhalb Jahre nach seinem Tod.

Wiederum 15 Jahre später erschien ein ebenfalls im Nachlass entdeckter Roman aus der Feder des jungen Schriftstellers. "Abschied", niedergeschrieben in wenigen Wochen im Herbst 1932, ist auch rein autobiografisch und wirkt deshalb wie das unpolitische Pendant zur "Geschichte eines Deutschen". Der hochpoetische Roman erzählt von der Liebe kurz vor dem Beginn der Apokalypse. Haffner schildert die letzten zwei Tage seines Besuches seiner großen Liebe Teddy in Paris, die im wahren Leben Gertrude Joseph hieß, Jüdin war und das Schlimme kommen sah, weshalb sie Berlin früh verließ und nicht zurückkehrte.

Das Werk ist leicht, fluid, schnell, ein einziger Rausch, der - ob Absicht oder nicht - von der Ekstase der Weimarer Republik zeugt, der keine einzige Verschnaufpause vergönnt war, die nie die Ruhe fand, sich zu konsolidieren, weshalb ihr Untergang früh besiegelt war. Schon auf den ersten Seiten von "Abschied" geht es um Tempo und Rastlosigkeit. Rein ins Auto, das Paar streitet schweigend. "Nun nahm ich mit Teddy ein Taxi und erlebte zwei oder drei gespenstische Stunden. Wir waren böse." Der Streit bleibt ebenso unerklärt wie das, was der Erzähler unter "böse" versteht. Es wird was erledigt, minimalistisch miteinander geredet, was eingekauft. Weiter geht es: "Teddy saß wieder in der linken Ecke und ich in der rechten, und wir schwiegen."

Ein Hauch von Ende über allem

Gedrosselt wird die Rasanz nur in lebensnahen Dialogen des Paares, die oft atemberaubend schön sind, was auch mit der Melancholie zu tun hat, die mitschwingt, da schon der Titel des Buches verkündet, wie es enden wird. Haffner beschreibt in expressionistischer Tradition jede Minute seines Ringens mit der Zeit, da er ahnt, was Teddy längst weiß: Nach diesen Tagen des Hochgefühls war es das mit den Beiden – für immer. Er will das, was kommt, unbedingt aufhalten, während sie es akzeptiert. Haffner, der sich im Roman mit seinem "richtigen" Namen Raimund Pretzel nennt, den er im Exil ablegte, ist dauerhaft im Kampf nicht nur gegen die unerbittlich tickende Uhr, sondern ebenso mit sich, seiner Verlustangst, seiner Eifersucht, mit gefühlten oder echten Rivalen - und irgendwie auch mit Teddy.

Der Erzähler will seine Angebetete in den letzten Stunden vor dem Abschied ganz für sich haben, aber sie entzieht sich ihm durch diese und jene Verpflichtung oder Erledigung, wobei sie immer unschuldig bleibt - und er alles akzeptiert. Wie es Verliebte tun, nimmt er alles als Zeichen wahr, registriert er bei Teddy jedes (ausgebliebene) Lächeln, jeden Blick, jede Kopfbewegung, wie sehr sie sich schminkt oder es sein lässt. Haffner alias Pretzel lobt sogar seine möglichen Kontrahenten ("Er ist eigentlich sehr anständig"), um seine Eifersucht zu verbergen.

Teddy hat durchaus einen Hang zum - offenkundig unbeabsichtigten - Kapriziösen. Manchmal fragt man sich, ob sie ihre Wirkung auf Männer kennt, aber auch, ob sie Pretzel wirklich (noch) liebt oder ihn auf Abstand hält, um es sich und ihm einfacher zu machen. Erst am Ende wird deutlich: Auch die junge Frau ist wahrhaftig verliebt. Die Beiden küssen sich und albern, während auch die Bahnhofsuhren ihren Dienst ohne Verzug verrichten, "als wären die Zeiger um meinen Hals gelegt, um mich, zusammenrückend, langsam zu erwürgen", hier, in einem "Massengrab von Abschied". Der Erzähler steigt in den Zug nach Berlin, das Fenster lässt sich nicht öffnen: "Ich konnte nur eben mit meinen Fingern ihre Finger anfassen."

Kein nur politisches Buch

Bei der Abschiedsszene kommen einem - dem Rezensenten ging es jedenfalls so - die Waggons in den Sinn, in denen Juden unter elenden Bedingungen in die KZs zum Töten oder Arbeiten geschickt wurden. Es geht einem durch den Magen, wenn man in "Abschied" einen Satz liest wie: "In meinem Koffer ging es zu wie in einem Konzentrationslager oder in einem Flüchtlingszug." Ohne Frage war Haffner ein sehr kluger, hellsichtiger Kenner und "Prophet" politischer Verhältnisse und Entwicklungen. Dennoch ist "Abschied" nicht als reine politische Botschaft gedacht gewesen, obwohl der Autor die letzten Zeilen des Romans am 23. November 1932 niederschrieb, also nicht einmal ein Vierteljahr vor Hitlers Machtergreifung.

"Konzentrationslager" gab es in Deutschland schon vor 1932, sie wurden auch so genannt. Nur waren die Einrichtungen noch nicht Teil des perfiden Systems der Nazis zur Vernichtung von Menschen aus politischen, religiösen und "rassischen" Gründen. In dem Roman heißt es an einer Stelle: "Die Krise war noch nicht richtig erfunden." In den Satz kann viel hineinorakelt werden. Dabei ist es eine selbstironische Bemerkung Pretzels, der in gutbürgerlichen Verhältnissen aufwuchs und lebte, zu seinem privaten Dasein als Jurist im Staatsdienst. "Ich hatte einen anständigen Wechsel von meinem Vater und aß jeden Tag ein ausgezeichnetes Mittagessen im Ratskeller, und nachmittags trank ich Kaffee bei Hoffmann und aß dazu ein Stück Torte mit Sahne."

Außerdem beschreibt Haffner in der "Geschichte eines Deutschen" die gesellschaftlichen und politischen Folgen der Weltwirtschaftskrise und der Hyperinflation in Deutschland - er weiß also mit absoluter Sicherheit, dass die Krise längst "richtig erfunden" worden war. Selbst der Krieg taugt in "Abschied" zum Witzemachen oder dazu, seinen Zorn über alltägliche Missgeschicke auszudrücken. Franz, einer der Freunde Teddys, "möcht gleich Krieg gegen Frankreich führen, aber so richtig, mit Gift und Galle. Ich möcht mit Maschinengewehren schießen. Oder, was gibt's denn noch? Gasbomben." Und: "Flammenwerfer". Das ist augenzwinkernd gemeint, heute würde man es vielleicht einen politisch unkorrekten Scherz nennen.

"Abschied" hat auch ohne überzogene Deutungen eine politische Dimension. Der Roman passt bestens in unsere Gegenwart, weil er auf leichte Art und Weise zeigt, wie schnell alles vorbei sein, dass sich niemand in Sicherheit wiegen kann, Glück ebenso vergänglich wie alles andere auf Erden. Das meisterhafte Werk ist das Gegenteil von Tod und Verderben. Es ist prall gefüllt von Leben, Schönheit und Emotionen. "Es gibt eine Euphorie des Abschieds. Es war plötzlich so, als hätten wir noch eine ganz lange, herrliche, ungestörte Zeit", erklärt der Erzähler am Ende seines Berichts. Wenige Minuten später sitzt er im Zug nach Berlin – auf Wiedersehen, Paris. Auf Wiedersehen, Teddy. Auf Wiedersehen, du schöne Welt.

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