Selfcare ist ein Akt politischer Kriegsführung und keine Wellness
«Me, myself and I», sang Beyoncé 2003. L’Oréal raunte es schon 30 Jahre früher – «weil ich es mir wert bin». Und spätestens seit «gönn dir» 2014 zu einem der Jugendworte avancierte, scheint klar: Das Ich ist der wichtigste Referenzpunkt im eigenen Koordinatensystem.
Sich etwas Gutes tun, den eigenen Bedürfnissen nachgehen, die Seele baumeln lassen – in einer auf Effizienz getrimmten Gesellschaft ist das allemal ein Bedürfnis. Aber was helfen Kamillentees, Lavendelbäder oder Wellnesswochenenden wirklich, wenn es darum geht, nachhaltig nach sich selbst zu schauen?

Ist es Selbstverantwortung oder schon Nabelschau, wenn man mit der Begründung «ich brauch' Me-Time» spontan Verabredungen cancelt, den Kindergeburtstag absagt oder das Handy klingeln lässt, auch wenn jemand am anderen Ende Hilfe braucht?
Für die Psychologin Stephanie Karrer ist klar: Das Lavendelbad ist zwar nett und die eigenen Grenzen zu kennen hilft, aber mit wahrer Selbstfürsorge hat das wenig zu tun. Selbstfürsorge sei zentral für unsere psychische Gesundheit, aber auch streng, weil man zuweilen gegen äussere Widerstände angehen müsse.
Mich um mich selbst zu kümmern, ist keine Genusssucht, sondern Selbsterhaltung – und das ist ein Akt politischer Kriegsführung.
Ein Blick in die Geschichte zeigt: Den Begriff «Selbstfürsorge» haben nicht Kneipp und Co. erfunden. Sie haben diesen lediglich gekapert und gut vermarktet. Es sind die 1960er- und 70er-Jahre, in denen Schwarze Communitys, denen das System die gesundheitliche Unterstützung verwehrte, diesen Begriff prägen. Hier meinte Selbstfürsorge, sich gegenseitig zu unterstützen und die gesundheitliche Fürsorge in die eigene Hand zu nehmen.
Das wird bei der afroamerikanischen Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde deutlich, die in ihrem Essayband «Ein strahlendes Licht» schreibt: «Mich um mich selbst zu kümmern, ist keine Genusssucht, sondern Selbsterhaltung – und das ist ein Akt politischer Kriegsführung.»
Selbstfürsorge als Selbstachtung
In einer Welt, die schwarzen Menschen systematisch ihren Wert abspricht, wurde die Sorge um sich selbst zu einem Akt der Rebellion und Selbstbehauptung – ein existenzieller Ausdruck von Selbstachtung. Kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.
Mit dem Aufkommen der «Wellness»-Bewegung in den 1970er-Jahren fand allerdings eine Umdeutung, ja eine Verwässerung statt: Aus einer politischen Praxis zur kollektiven Widerstandsfähigkeit wurde ein konsumierbares Produkt, das Individualismus statt Gemeinsinn stärkt.
Wenn das Leben überläuft
Inzwischen interessiert sich auch die Psychologie verstärkt für Selbstfürsorge – nicht zuletzt, weil sie handfeste Auswirkungen auf unsere psychische und körperliche Gesundheit hat und fehlende Selbstfürsorge längerfristig in Depressionen münden kann.
Stephanie Karrer beispielsweise empfiehlt, das eigene Leben wie ein Glas oder Gefäss zu betrachten: Durch Selbstfürsorge überlegen wir, wie wir unser Glas vergrössern und dafür sorgen können, dass es nicht überläuft. Wir sollten uns fragen, was Stressoren sind, die das Glas füllen, und was das Glas leert, also Ressourcen frisst.
Aber was, wenn Selbstfürsorge nicht nur bedeutet, sich wohler zu fühlen – sondern uns auch fragen lässt, wer eigentlich darüber bestimmt, wie wir leben, was wir zu leisten haben und was dies Wert ist?
Wer verfügt über mich?
Der französische Philosoph Michel Foucault beschäftigte sich in seinen späten Schriften mit dem antiken Konzept der «cura sui» – der Sorge um sich selbst, die für ihn eine Form der Selbstliebe ist. Er plädierte für eine Beziehung des Selbst zu sich, die erforderlich sei, um eine Praxis der Freiheit zu realisieren.
Damit meinte er keinen Rückzug ins Private, sondern einen Akt der Selbstermächtigung gegenüber fremder Bevormundung. In einer Gesellschaft, die Subjekte diszipliniert – körperlich, sozial, moralisch – sei Selbstsorge der Weg, Macht und damit Freiheit über sich selbst zurückzugewinnen, statt sich von gesellschaftlichen Normen – oder heute zum Beispiel: von Fitness-Idealen – regieren zu lassen.
Wie Selbstfürsorge aussehen kann
Wie könnte solche Selbstfürsorge im Alltag konkret aussehen? Die Psychologin Stephanie Karrer zählt unterschiedliche Formen auf. Körperlich: indem man auf Signale hört, Pausen einlegt oder sich bewegt. Emotional: wenn man sich Zeit für sich selbst oder nährende Beziehungen nimmt. Kognitiv: durch bewusstes Reflektieren eigener Gedanken und Haltungen. Auch soziale Aspekte zählen dazu: etwa Konflikte klären oder Nähe zulassen. Und schliesslich spirituell: dankbar sein, beten, oder sich mit der Natur verbinden.
Wer aber Vollzeit arbeitet, für Kinder und Umfeld da sein möchte und einen Haushalt schmeissen muss, dessen restliche Zeitressourcen sind im täglichen To-do-Wahnsinn schnell aufgebraucht. Für Achtsamkeit, Spaziergänge und ein beglückendes Sozialleben braucht es aber ausgerechnet das: Zeit.
Wir leben aktuell in einer ausserordentlich gestressten Gesellschaft. Menschen fühlen sich müde, haben das Bedürfnis, sich auszuklinken. Laut dem Schweizer Familienbarometer 2025 gaben 29 Prozent der befragten Eltern an, dass der Druck, dem sie ausgesetzt sind, das Familienleben beeinträchtigt. Hauptursache für diesen Druck ist der Anspruch, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren – dies nannten 54 Prozent der Eltern als einen der wichtigsten Belastungsfaktoren. Die Spoken-Word-Künstlerin Olivia El Sayed prägte dafür den Begriff «muttermüde» als Steigerungsform von hundemüde.
Zuwendung statt Rückzug
Wie bleibt man in solch widrigem Umfeld heil? Was, wenn Selbstfürsorge an strukturelle Grenzen stösst? Was hilft Meditation, Joggen oder das Schaumbad gegen Zeitmangel und Geldsorgen? Läuft Selbstfürsorge nicht ins Leere, wenn die wirtschaftlichen und politischen Strukturen bleiben, wie sie sind? Was nützen Entspannungsübungen oder Waldbaden, wenn es weiterhin keine Elternzeit gibt?
Karrers Vorschläge können diese strukturellen Probleme zwar nicht lösen – aber sie bieten individuelle Orientierung in einem überfordernden Alltag. Wahre Selbstfürsorge meint also nicht, sich von der Welt abzuwenden, sondern sich ihr aufrichtig zuzuwenden. Im Bewusstsein über die eigenen Bedürfnisse und im Austausch mit anderen. Gerade so kann eine längerfristig resiliente Gesellschaft entstehen, in der wir aufeinander achten.
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