«Like a Prayer»: So nah sind sich Religion und der Pop
Sting besang 1988 in seinem Lied «Fragile» die Zerbrechlichkeit des Menschen und klagte Kriege an. Und Michael Jackson schrie 1995 im «Earth Song» seine Verzweiflung über die Zerstörung der Schöpfung heraus – zwei fundamentaltheologische Themen. Die Forschung spricht vom «spiritual turn», einer «spirituellen Wende» in der Popmusik seit den 1990er-Jahren.

Popmusik umgibt uns von klein auf. Sie präge uns schon im Mutterbauch, meint Theologe Frank Thomas Brinkmann und erklärt: «Bevor wir religiös sozialisiert werden, werden wir popkulturell sozialisiert.»
Das Lebensgefühl getroffen
Brinkmann, der an der Universität Giessen zu Theologe und Kulturwissenschaft forscht, betrachtet Popmusik autobiografisch. Als Teenager etwa fühlte er sein Lebensgefühl perfekt getroffen von David Bowie in «Heroes»: Einmal ein Held sein, und sei es nur für einen Tag. Anderen Menschen mag es mit anderen Popsongs genauso gehen. Brinkmann nennt das die «religioide Qualität», die Popmusik haben kann.
Nicht nur das Religiöse selbst, auch die Rebellion gegen Religion, gegen religiöse Autoritäten, Dogmen und Bevormundung, spiegeln sich im Pop. Selbst wenn diese Rebellion oft kommerzialisiert ist. Als Motiv religiöser Provokation im Pop wittert Theologe Brinkmann mehrheitlich Geldmacherei. So hätte auch Pop-Queen Madonna früh begriffen, dass sich Provokation mit Religion auszahle.
Madonna!
Die «Queen of Pop» erheischt seit Jahrzehnten Aufsehen: Sei es als Gekreuzigte oder mit Songs wie «Like a Prayer».
Schon der Bühnenname «Madonna» ist religiöse Provokation – er spielt auf Maria an, die Mutter Gottes. Mit ihm machte die gesanglich durchschnittlich begabte US-Sängerin Weltkarriere.
Immer wieder bediente sich Madonna unterschiedlichster religiöser Traditionen: Sie zog Bischofsroben an, liess sich auf der Bühne kreuzigen, tanzte zu Hindu-Mantren in Henna-Tattoos, huldigte einer Light-Version jüdischer Mystik Kabbala, legte rote Armbändli um, stattete sich mit Kreuzen und Davidsternen aus.
Besonders provokant wirkt Madonna, weil sie religiöse Symbolik mit Sex kombiniert. Gleichzeitig bleibt Madonna geprägt von der Römisch-katholischen Kultur und Ästhetik. Aus diesem kirchlichen Zeichenreservoir kann sie schöpfen.
Religion und Provokation
Das Spiel mit religiöser Provokation funktioniert besonders gut in den USA, in «God’s own Country». Biedere Evangelikale dort lassen sich leicht reizen – durch scheinbar oder echt Blasphemisches und Satanisches.
Umgekehrte Kreuze, Pentagramme, Hexenmessen: Die okkulte Provokation hat Bands wie Black Sabbath gross gemacht. Die Forschung verwendet hier den Begriff des «occult turn», einer «okkulten Wende».
Der wohl wichtigste Protagonist dieser Wende ist Black-Sabbath-Sänger Ozzy Osbourne. Und der gestand mehrfach, dass er das mit den Teufelssymbolen doch überhaupt nicht ernst gemeint habe.
Ähnlich wie der Punk wurde auch der düstere Style von Black- und Doom-Metal bald massentauglich. Die Mode-Industrie ermächtigte sich des schwarzen Friedhofsstils und Hexen und Werwölfe erscheinen zuhauf in TV-Serien. Das Okkulte wurde Kitsch.
Angekommen im Mainstream
Das verstehen sehr fromme Menschen allerdings gelegentlich nicht. Proteste gegen den Eurovision Song Contest zeigen das: In Malmö 2024 zelebrierte der irische Act von Bambie Thug eine Pseudo-Teufelsanbetung und führte auch eine Dornenkrone mit – und setzte diese am Schluss Nemo Jesus-gleich auf den Kopf.

Die ikonische Aufnahme von Nemo wurde Sinnbild für den Leidensweg und die Befreiung nonbinärer Menschen und anderer marginalisierter Gruppen. Und sie provozierte christlich-fundamentalistische Kreise.
In Basel wollten Evangelikale den ESC 2025 sogar wegen angeblichem Satanismus verhindern. Religiöse Symbole funktionieren und provozieren also immer noch gut, selbst in unserer mehrheitlich säkularen Massenkultur.
Live-Konzerte als Erlebnisreligion
Die Populärmusik dieser Massenkultur lebt gerade auch von ihrer Live-Darbietung: Da singen Tausende mit, da fliessen Tränen, da pulsiert Leidenschaft für einen Star, da ist die perfekte Bühnen-Inszenierung. Ein Konzertabend folgt einer «Liturgie», die alle mitzufeiern wissen.
Die Parallelen zu Religion liegen auf der Hand. Wir sprechen von Pop-Ikonen, Pop-Diven oder Fan-Gemeinden. Das wurde religionssoziologisch schon oft beschrieben. Musikjournale erkennen in Leonard Cohen einen «Priester» und nennen Sänger Herbert Grönemeyer «Kantor».
Tatsächlich begleiten diese und andere Sänger ihre Fan-Gemeinden ein Leben lang – in Freud und durch Leid. So verarbeitet Grönemeyer den Tod seiner Frau im Song «Mensch». Den singen Zehntausende frenetisch mit, im Wechselgesang mit ihrem «Kantor» Grönemeyer.
Auch die Konzerte von Musiker Nick Cave fallen in die Kategorie «Ekstatisch». «Da mache ich Transzendenz-Erfahrungen», sagt Musikjournalist Reto Aschwanden von der Zeitung «Republik». Nick Cave, der aus seiner Suche nach Gott keinen Hehl macht, spricht in Interviews fasziniert von Jesus. In seinen Songtexten findet er Worte für Zweifel und Gottverlassenheit.
Bei Cave findet Reto Aschwanden, was er in der Kirche nicht fand. Als Kind musste Aschwanden jede Woche in die Messe, aber sie packte ihn nicht, langweilte ihn sogar. Ganz anders die Konzerte von Nick Cave. Von ihnen zeigt sich Aschwanden ergriffen, ja gar «Touched by the Spirit» – wie es in einem Song von Nick Cave heisst.
Kein Wunder ist Pop auch in den Kirchen zu Hause – und das seit über 50 Jahren. Kirchliche Popularmusik ist neben Orgel und Bach Teil eines jeden ordentlichen Studiums der Kirchenmusik. Mit ihr möchte die Kirche diversere Milieus als die «klassischen» erreichen.
Pop in der Kirche – das geht von charismatischer Lobpreis-Industrie bis zu Luther-Musicals, von Hard-Rock-Gottesdiensten bis Techno in Mitternachtsmessen.
In Religionsunterricht und Andachten wird aber auch Popmusik eingesetzt, die nie für Kirche produziert wurde: etwa die von Mega-Star Taylor Swift.
Pop-Diva als Hohepriesterin?
Swift ist die kommerziell erfolgreichste Sängerin aller Zeiten: Ihre Fan-Gemeinde umfasst allein auf Instagram rund 280 Millionen Follower.
Selbst die altehrwürdige Universitätskirche Heidelberg veranstaltet jetzt Taylor-Swift-Gottesdienste. Theologe Frank Thomas Brinkmann meint seufzend dazu: Er habe nichts gegen Taylor Swift. Aber er hält eine Kirche für unglaubwürdig, wenn sie Songs von Popstars wie Swift benutze, um die Kirche «mal» vollzukriegen. Das sei Anbiederung.
Stattdessen müsste es um echte Auseinandersetzung gehen mit den existentiellen Fragen, die Popsongs stellen. Das geschehe durchaus in den Predigten zu den Inhalten von Swift-Stücken. Nur, braucht es diesen «Umweg» in die Kirche?
Fakt ist: Millionen Menschen lassen sich Heilszusagen wie «Du bist gut, so wie Du bist» lieber von Taylor Swift zusprechen als vom Pfarrer. Millionen Menschen singen das Hallelujah von Leonard Cohen, ob zur Hochzeit oder Abdankung. Und sind dann tatsächlich getröstet.
Popsongs markieren Stationen in unseren Leben und helfen uns, selbiges durchzustehen, zu feiern und zu trauern. Manche Songs lassen sogar transzendente Erfahrungen zu – ob nun mit oder ohne religiöse Symbolik vorgetragen.
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