«Die Nulllinie»: Bericht aus dem Innersten der Hölle
«Nam pisdá, wir sind am Arsch.» Mit diesem Ausruf eines ukrainischen Soldaten beginnt der neue Roman «Die Nulllinie» von Szczepan Twardoch.
«Wir sind am Arsch.» Der Satz bringt die Situation der Figuren in diesem Kriegsroman auf den Punkt. Sie sind Kämpfer der ukrainischen Armee, die an der Front, der «Nulllinie», einen verzweifelten Abwehrkampf gegen die russischen Aggressoren führen.
Recherchen im «Fleischwolf»
Szczepan Twardoch stammt aus dem schlesischen Teil von Polen. Seit Kriegsbeginn hat er die Front immer wieder besucht.

Twardoch ist mit ukrainischen Soldaten unterwegs gewesen. Hat ihren grässlichen Alltag hautnah miterlebt und danach seine Erfahrungen literarisch verdichtet.
«Und plötzlich», heisst es im Roman, «kommt es. Ein Pfeifen und vier Explosionen. Nicht sehr nah, aber die Erde bebt doch, es rieselt von den Wänden. Ein Treffer in eure Grube, und ihr beide seid tot.»
Die beiden Soldaten, um die es in dieser Passage geht, haben Glück, diesmal: «Die Grube nicht getroffen. Das ist das Einzige in der ganzen Welt, in ihrer ganzen, über Jahrtausende, Millionen Jahre sich erstreckenden Geschichte, was Bedeutung hat. Eure Grube nicht getroffen.»
Durch die Augen des Kämpfers
Die Hauptfigur des Romans ist der fiktive Frontsoldat Kon. Er ist um die 40. Durch seine Augen erleben wir das brutale Töten, Leiden und Sterben. Wir blicken auf hoffnungslose Kreaturen, die dazu verdammt sind, in Kälte, Schlamm und Nässe in jämmerlichen Unterständen auszuharren.

Die Darstellung ist umso intensiver, als der Erzähler nicht in der Er-Form von Kon spricht, sondern diesen direkt in der Du-Form anspricht. Leserinnen und Leser werden unmittelbarer ins Geschehen gezogen.
Auch dann, wenn Kon mit seinem Gewehr einen Russen ins Visier nimmt: «Du zielst tief, willst den Bauch unterhalb der Schutzweste treffen, du schiesst gut und bist ruhig, deshalb triffst du.»
Hoffen ist tödlich
Twardochs Beschreibungen sind von vulgärstem Soldatenslang durchsetzt. Und wirken auf diese Weise umso brutaler. Unmenschlicher. Sie vermitteln den Eindruck einer Welt an der Nulllinie. Auch in metaphorischem Sinn.
Alles ist auf Null gesetzt: die Zivilisation, die Menschlichkeit, der Glaube an die Zukunft. Einer der Soldaten ist überzeugt, es gebe nur einen Weg, die Hölle an der Front psychisch durchzustehen: sich keine Überlebens-Hoffnung zu machen.
«Wenn jemand das Kriegsende erleben will», sagt der Mann, «dann wird der Krieg unerträglich, … besser nicht zu leben, als auf ein Leben nach dem Krieg zu warten».
Kabinett der Figuren
Durch die Augen von Kon erfahren wir, dass die Soldaten ohne Ausnahme auf die Armee schimpfen. Sie ist in erbärmlichem Zustand. Die armen Teufel auf dem Schlachtfeld sind miserabel ausgerüstet. Für Präsident Selenski, der im fernen Kiew Durchhalteparolen verbreitet, haben die Leute an der Front nur Hohn und Spott.
Auf die Allgegenwart des Todes reagieren sie indessen unterschiedlich: Sie drücken sich vor Einsätzen. Oder sie laufen wie zum Trotz vorne mit, um möglichst viele Russen zu töten. Oder sie verlieren sich in verblassende Erinnerungen an die Geliebte. Oder in den Alkohol.
Szczepan Twardoch gilt seit Romanen wie «Morphin» oder «Kälte» als eine der wichtigsten literarischen Stimmen aus Osteuropa. Einmal mehr bewegt er sich mit «Die Nulllinie» auf höchstem literarischem Niveau. Der Roman ist ein Wurf und – leider – ein Buch zur Stunde.
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