Der Mercedes 300 SEL 6.3 gehört zweifellos zum imaginären automobilen Weltkulturerbe. ntv.de durfte ihn als Shuttle von Como nach Stuttgart nutzen und testfahren. Von einem Ort also, in dem jedes Frühjahr Automobilkultur in Reinform praktiziert wird.

Es braucht manchmal nicht viel, um bei Autofans Gänsehaut zu erzeugen. Nur eine Zahl. Die "6.3" bei Mercedes ist eine solche Zahl. Und sie ist immerhin bedeutend genug, dass Mercedes Jahrzehnte später in deren Anlehnung die "6.2" als Schriftzug auf die Flanken aller Modelle geklebt hat, die den heute schon zur Legende gereiften Sauger-V8 mit der internen Bezeichnung M156 respektive M159 unter dem Blechkleid tragen. Und obwohl hier 100 Kubikzentimeter fehlen, wissen die Fans ganz genau, worauf das Hubraumzitat anspielt. Doch das drückt nicht im Ansatz aus, wie ein 300 SEL 6.3 der Baureihe W109 auf zeitgenössische Beobachter gewirkt haben muss.

Die 1965 auf den Markt gekommene, elegant-zierliche "S-Klasse" (die Bezeichnung S-Klasse wurde erst 1972 mit dem W116 offiziell eingeführt) bekam etwa drei Jahre nach Einführung das berühmte M100-V8-Aggregat aus der Baureihe W100 als Leihgabe, besser bekannt als Mercedes 600 ("der große Mercedes"). Sicherlich mag der US-amerikanische Markt zu dieser Entscheidung beigetragen haben, wo selbst kleinere Fahrzeuge ohne großvolumige Achtzylinder kaum ernst genommen wurden.

Der große 6.3-Schriftzug ist legendär

Aber auf dem Heimatmarkt? Muss dieser W109 wie ein Fremdkörper gewirkt haben. Aber er war dennoch einer, der auf fruchtbarem Boden rollte, nachdem Ludwig Erhard für das Wirtschaftswunder gesorgt hatte. Und Mercedes installierte sein Topmodell selbstbewusst, erkennbar nicht zuletzt am zweiteiligen Modellschriftzug. Während der Part "300 SEL" in üblicher Größe links auf dem Heckdeckel prangte, hatten die Untertürkheimer die "6.3" auf der rechten Seite markant groß gestaltet.

Man muss sich einmal vor Augen führen, wie das damalige Verkehrsumfeld aussah, um den 6.3 überhaupt ansatzweise verstehen zu können. Heute zeigt ein kompakter Volkswagen ID.4 mit Topmotorisierung einem Basis-Porsche-911 auf den ersten Metern die Rücklichter, wenn der Sportwagenfahrer nicht aufpasst. Aber ein 250 PS starker 6.3 im Jahr 1968? Wer hätte ihm gefährlich werden sollen auf den leeren Autobahnen?

Selbst das damalige Elfer-Topmodell musste mit vergleichsweise dürrem zwei Literchen Hubraum auskommen, aus denen aber immerhin 170 PS entstammen. Beschleunigung auf 100 km/h? Vielleicht in acht Sekunden, aber weit entfernt von den 6,5 Sekunden des Power-Benz. Der 210 PS starke Carrera RS sollte zu diesem Zeitpunkt noch vier Jahre auf sich warten lassen. Und einen Ferrari 275 oder 365 in Deutschland anzutreffen, glich vielleicht keinem Sechser, aber womöglich doch einem Fünfer im Lotto. Und die Realität auf der Straße? Volkswagen Käfer mit 30 oder 34 PS. Um die Preisverhältnisse einmal klarzumachen - der 300 SEL 6.3 notierte 1968 mit 35.600 D-Mark in der Liste. Ein Mittelklasse-Volkswagen 1600 startete bei etwas mehr als 6000 D-Mark.

Und heute? Der 300 SEL 6.3 ist Kult, hat sich tief in das kollektive Autofan-Gedächtnis eingebrannt. Doch selbst ein Basis-W108 oder -W109 lässt sich in puncto Stil nur schwer übertreffen. Und dann hier in Como? Ganz großes Kino. Da hier in der Lombardei am Lago di Como Ende Mai sogar zwei hochkarätige Automobilveranstaltungen gleichzeitig stattfinden (der FuoriConcorso sowie der Concorso d'Eleganza an der berühmten Villa d'Este), steht die Autowelt Kopf.

Hier wird der Bovensiepen Zagato enthüllt, während dort das Tuch vom seriennahen BMW Concept Speedtop gezogen wird. Auf ihn wird ein auf 70 Exemplare limitiertes Shooting-Brake-Coupé mit Achtzylinder folgen. Und das Repertoire an Ausstellungsfahrzeugen ist nicht nur vielfältig, sondern überdies einzigartig hochkarätig. Hier ein Mercedes CLK-GTR oder Alfa Romeo 33 Stradale, drüben ein Bugatti Type 101, von dem fünf Stück gebaut wurden. Oder ein extrem seltener Ferrari 410 Superamerica. Die jüngere Klientel würde vielleicht eher beim F50 stehen bleiben - ebenfalls zugegen.

M100 läuft für sein Alter kultiviert

Und draußen? Nichts als Stau. Allerdings reisen die Besucher auch nicht gerade mit Allerweltsautos an. Da ist ein Alfa Romeo 8C genauso zu entdecken wie ein Lamborghini Miura oder teure Sportwagen von der Stange vom Porsche Elfer Turbo bis zum Ferrari 812 GTS. Jetzt kommt bald mein Auftritt. Immerhin bin ich schon im temporären Besitz des 6.3-Schlüssels.

Der Weg zur Tiefgarage ist nicht mehr weit, ich erblicke den Ausnahme-W109 im Ton Dunkeloliv Code 291. Schnell reingeschwungen in den hellbeigen Ledersitz, und schwups, bewegt sich die Hand mit dem Schlüssel in Richtung Zündschloss. Der Anlasser muss nicht lange arbeiten, denn das Riesentriebwerk startet prompt und begrüßt mich mit tiefem Grummeln.

Der in der kleinsten Skala im Kombiinstrument untergebrachte Drehzahlmesser zuckt ein bisschen. Der M100 läuft kultiviert und rund, aber eben nicht so vollendet wie beim Neuwagen. Unmittelbar nach dem Einlegen der Fahrstufe "D" hebt sich die Kühlerfigur, der Mercedes-Stern, leicht mit der Gaspedalbewegung, der 1,8-Tonner kriecht los. Ich lasse ihn aus der Tiefgarage rollen, was mir leichtfällt. Denn der zwar fünf Meter lange, jedoch lediglich 1,81 Meter breite S-Klasse-Vorgänger ist frappierend übersichtlich. Ein bisschen Respekt schwingt aber immer mit, damit bloß keine Schramme in das restaurierte Gefährt kommt!

Dann in die verstopfe Zufahrtsstraße in Richtung Autobahn inmitten dieser Szenerie von Hochkarätern einbiegen. Mit dem 6.3 bist du kein Zaungast, sondern Teil der automobilen Hautevolee. Nur eben nicht ohrenbetäubend schreiend wie der dritte Lamborghini Huracán binnen fünf Minuten, sondern allenfalls leise blubbernd. Der 6.3 ersetzt Hochpreisigkeit durch Klasse und Stil, wenn er still durch die Straßen rollt. Sogar der Fahrer eines millionenschweren Lamborghini Miura zollt Respekt und hebt den Daumen.

Auch Langstrecke kann der Top-W109 noch

Meine Aufgabe besteht darin, den 6.3 die etwas weniger als 500 Kilometer lange Strecke von Como nach Stuttgart zu pilotieren, um ihn dem Mercedes-Benz-Museum zu übergeben. Das ist nicht nur eine Strecken-, sondern auch eine Zeitreise. Wie hat es sich damals angefühlt, mit einem der teuersten Serienautos Hunderte Kilometer am Stück abzuspulen?

Klar, der luftgefederte Benz steckt lange Autobahnetappen souverän weg. Wenngleich er kurze Querfugen etwas hölzern absorbiert, schwingt er bei langfrequenten Wellen sanft nach, was irgendwie ein wohliges Gefühl nach dem Motto "schwerer Wagen" erzeugt. Und den wichtigsten Luxus hat er an Bord: die Klimaanlage. Was fehlt, ist der Tempomat - der debütierte bei Mercedes erst mit dem 450 SEL 6.9 der Baureihe W116 im Jahr 1975. Schade. In der Schweiz, wo du höllisch aufpassen musst, ja nicht auch nur einen einzigen Kilometer pro Stunde zu schnell zu fahren, wäre er schön gewesen.

Die Etappe Schweiz klappt dennoch gut und knöllchenfrei, aber ich freue mich auf das Stück freie A81 später in Deutschland. Und als die Autobahn zu vorgerückter Stunde bei Dämmerung mit gerade noch so viel Restlicht für gute Sicht vereinsamt, lasse ich den 6.3 laufen. Dabei muss er gar nicht herunterschalten, sondern kann einfach im vierten Gang verharren. Und der 500-Newtonmeter-Brocken von Maschine treibt die Limousine mächtig nach vorn, liefert auch jenseits der 200 km/h-Marke noch Schub. Tacho 230? Gar kein Problem (Werksangabe 220 Sachen). Nur, dass die Lenkung eher eine Peilung ist - hier ist Vorsicht geboten, vor allem in lang gezogenen Kurven. Auf kerzengerader Strecke läuft der 109er aber immerhin ordentlich geradeaus. Und natürlich nervt der Geräuschpegel irgendwann, also geht es flugs wieder herunter mit dem Tempo. Dennoch unglaublich bei einem fast 60 Jahre alten Auto.

Viergangautomatik arbeitet butterweich

Nach rund sechseinhalb Stunden erreicht der 6.3 seine Heimatstadt Stuttgart - nicht Bestzeit, aber das liegt keineswegs am Auto. Denn staubedingt musste der 55 Jahre alte Untertürkheimer auch noch den Gotthardpass und damit über 2000 Höhenmeter überwinden. Kein Problem für das Hubraum-Monster mit dem fluffig-weichen Hydraulik-Viergangautomatikgetriebe. Mit der sogenannten hydraulischen Kupplung (ohne drehmomentverstärkendes Leitrad) fährt der elegante Mercedes butterweich an. Und die kurze Übersetzung macht ihn extrem giftig. Zackiges Beschleunigen aus dem Stand bringen die hinteren Räder gar an die Haftgrenze - keine gute Idee.

Nach rund 500 Kilometern musste der Oldie genug schuften, Zeit für eine wohlverdiente Pause. Jetzt gleitet der Schlüssel in das Tür- statt Zündschloss. Und mit der Fahrertür verriegeln auch die restlichen drei Türen nebst Kofferraum. Und zwar nicht mit einem lauten Klack, stattdessen sinken die Sicherungsstifte leise per Unterdruck. Alte Mercedes-Hasen kennen dieses Prinzip, das auch noch im W124 zur Anwendung kam. Doch der ist ein junger Hüpfer gegen den Top-W109.

Und selbst nach fast 60 Jahren kann man den luxuriösen 300 SEL 6.3 im Grunde als alltagstauglich einstufen. Mit der Einschränkung, dass es fast zu schade ist, so viele Kilometer auf den Luxusliner zu fahren. Und in Kurven ist Vorsicht geboten, denn die altmodische Pendelachse hat ihre querdynamischen Grenzen. So können wilde Kurvenfahrten zur Grenzerfahrung werden. Die Langstrecken-Erfahrung mit dem 6.3 war dagegen schön. Auf zum nächsten Abenteuer.

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