Das Migrationsdilemma der Briten
Die Zuwanderung nach Großbritannien hat sich 2024 halbiert. Unter dem Strich kamen 431.000 Menschen ins Land, nach 860.000 im Vorjahr. Vor allem die Anträge für Arbeits- und Studienvisa gingen zurück, außerdem stieg die Zahl derer, die das Land verließen.
Für den britischen Premierminister Keir Starmer ist die geringere Anziehungskraft des Landes allerdings eine gute Nachricht. Migration und Zuwanderung sind in den vergangenen Monaten zu einem heiß diskutierten politischen Thema geworden. Erst vor einer Woche hat die Regierung neue Verschärfungen der Visumsregeln angekündigt. Der Rückgang sei „entscheidend“, sagte Innenministerin Yvette Cooper. Sie versprach, dass die gerade beschlossenen „radikalen Reformen“ die Zahlen weiter drücken würden.
Die Bilanz geht in erster Linie auf Maßnahmen zurück, die die konservative Vorgängerregierung ergriffen hat, um die hohen Zuwandererzahlen in den Griff zu bekommen. Seit dem Ausscheiden aus der Europäischen Union 2021 vergibt Großbritannien Visa auf Basis eines Punktesystems, das sich unter anderem am Bedarf von Wirtschaftszweigen mit knappen Fachkräften orientiert. Trotz des erklärten Ziels, mehr Kontrolle über die Grenzen zu erlangen, war die Nettomigration aber auf immer neue Rekorde gestiegen. Im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre vor dem Brexit-Referendum hatten sich die Zahlen zuletzt mehr als verdreifacht.
Die Einschränkungen, die unter dem früheren Premier Rishi Sunak beschlossen wurden, betreffen insbesondere die Möglichkeit, Familienangehörige mit ins Land zu bringen. Für Studierende und für Beschäftigte in der Alten- und Sozialpflege ist das nun praktisch nicht mehr möglich.
Deutlich angehoben wurde auch der zu erwartende Arbeitslohn, der vor der Ausstellung eines Arbeitsvisums nachgewiesen werden muss. Er liegt mittlerweile bei 38.700 Pfund (umgerechnet knapp 44.900 Euro), ein Anstieg um fast 50 Prozent. Wer als britischer Staatsbürger einen Ehe- oder Lebenspartner ins Land holen möchte, muss jetzt über ein jährliches Mindesteinkommen von 29.000 Pfund (etwa 34.500 Euro) verfügen.
948.000 Zuwanderer haben sich im Lauf des vergangenen Jahres auf der Insel niedergelassen, fast ein Drittel weniger als die 1,33 Millionen, die im Jahr 2023 kamen. 517.000 Menschen haben im gleichen Zeitraum das Land verlassen, belegen Zahlen der Statistikbehörde ONS. Als Nettomigration wird der Unterschied zwischen Zuwanderung und Abwanderung bezeichnet.
Die Nettozuwanderung aus der Europäischen Union ist seit 2021 negativ, deutlich mehr EU-Bürger verlassen das Land, als neue hinzuziehen. Im vergangenen Jahr kamen 122.000 Menschen aus der EU, Island, Liechtenstein und der Schweiz. Das waren 13 Prozent aller Zuwanderer. Unter den Auswanderern machte diese Gruppe 42 Prozent aus, 218.000 Personen.
Indien war mit 157.000 Personen das wichtigste Zuwanderungsland. Es folgten Pakistan (76.000), China (70.000) und Nigeria (52.000). Arbeits- und Studienvisa sind aus diesen Staaten relativ ausgeglichen, lediglich China stellt eine Ausnahme dar. Drei Viertel der Visa für die Volksrepublik werden für Studienzwecke vergeben. 95.000 Personen sind im vergangenen Jahr ins Land gekommen, um Asyl zu beantragen.
Die mit Abstand größte Gruppe unter den Auswanderern waren junge Menschen, die nach Abschluss ihres Studiums das Land verlassen haben. Eine der Nachwirkungen der Pandemie dürfte sich damit normalisieren. Kontakt- und Reisebeschränkungen in großen Teilen der Welt hatten zwischen 2020 und 2021 viele Studieninteressenten gezwungen, ihre Pläne zu verschieben. In den Folgejahren kamen entsprechend Studierende ins Land, die inzwischen ihren Abschluss haben.
Überschaubare Auswirkungen auf die Wirtschaft
„Die Migrationsmuster im Vereinigten Königreich waren 2023 sehr ungewöhnlich“, sagte Madeleine Sumption, Direktorin der Denkfabrik Migration Observatory an der Universität Oxford, der BBC. Die Visa-Zahlen für Pflegekräfte, internationale Studierende und deren Familienangehörige seien in dem Jahr unerwartet hoch ausgefallen. Entsprechend habe es Spielraum gegeben, die Zahlen zu senken.
Auf die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt dürften die Auswirkungen des Rückgangs überschaubar bleiben, erwartete sie. „Die Gruppen, die den Rückgang verursacht haben, vor allem Angehörige von Studierenden und Arbeitskräften, gehören nicht zu den höchst qualifizierten, bestbezahlten Migrantinnen und Migranten.“ Sie würden weder maßgeblich die Steuereinnahmen beeinflussen noch deutliche finanzielle Unterstützung benötigen.
Die angekündigten zusätzlichen Maßnahmen der Labour-Regierung haben bei den Unternehmen allerdings erhebliche Sorgen ausgelöst. Starmer hat vergangene Woche die Regeln für Arbeitsvisa verschärft. „Skilled workers“, gut ausgebildete Facharbeiter, müssen künftig einen Hochschulabschluss nachweisen. Für eine Beschäftigung in der Alten- und Sozialpflege werden keine Visa mehr ausgegeben. Eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung, auch Voraussetzung für einen britischen Pass, ist erst nach zehn Jahren im Land möglich. Bisher waren es fünf.
Hinzu kommen hohe Kosten. Die Visagebühren haben in den vergangenen fünf Jahren um 126 Prozent angezogen und betragen inzwischen bis zu 1500 Pfund. Hinzu kommt eine jährliche Gesundheitsabgabe von 1035 Pfund. Die anfänglichen Einwanderungskosten liegen damit inzwischen bis zu 17-mal höher als im internationalen Durchschnitt beliebter Zuwanderungsländer.
Laut aktuellen Untersuchungen des Arbeitgeberverbandes Institute of Directors (IoD) sehen schon jetzt mehr als drei von zehn Unternehmern und Führungskräften den Fachkräftemangel als wesentlichen Hemmschuh für Wachstum.
„Die vorgestellte Strategie birgt das Risiko, das bereits fragile Wirtschaftswachstum weiter zu schwächen. Sie schränkt die Möglichkeiten der Arbeitgeber ein, akute personelle Lücken zu schließen“, warnte Alex Hall-Chen, IoD-Verantwortliche für Weiterbildung und Beschäftigung.
Besonders groß sind die Sorgen in der Pflege, wo künftig keine Zuwanderer mehr angeworben werden dürfen. Schon heute sind 131.000 Stellen nicht besetzt, eine Quote von 8,3 Prozent.
Angesichts des demografischen Wandels dürfte die Branche nach Schätzungen von Beobachtern bis 2040 mehr als eine halbe Million zusätzliche Arbeitskräfte benötigen.
Claudia Wanner schreibt für WELT vor allem über die britische Wirtschaft.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke