„Wir liegen im Zeitplan“ – der Mann, der die wichtigste Bahnstrecke Deutschlands saniert
Mit einem Team von 130 Frauen und Männern der Deutschen Bahn koordiniert Julian Fassing, 47, die Generalsanierung der rund 270 Kilometer langen Bahnstrecke zwischen Hamburg und Berlin. Viele kleine Firmen und 15 große Bauunternehmen arbeiten an der Trasse. Etwa 1000 Menschen sind täglich auf der Baustelle im Einsatz. Seit dem 1. August und noch bis zum 30. April 2026 ist die Strecke komplett gesperrt. Die ICE-Fahrt von normalerweise rund zwei Stunden dauert mit der Umleitung über Uelzen und Stendal etwa 45 Minuten länger. WELT AM SONNTAG trifft Fassing bei den Bauarbeiten am Bahnhof Büchen. Dort lässt Siemens von einem Helikopter an diesem Tag Signalmasten einsetzen – das geht schneller als vom Boden aus.
WELT AM SONNTAG: Herr Fassing, die Deutsche Bahn ringt vor allem im Fernverkehr mit ihrer Pünktlichkeit. Sind Sie bei der Generalsanierung der Strecke Hamburg – Berlin pünktlich?
Julian Fassing: Was die Arbeiten draußen auf den verschiedenen Baustellen angeht, ja, da sind wir zufrieden und liegen im Zeitplan. Wir haben zwei Phasen, den Block „Bautechnik“, also Gleisbau, Kabeltiefbau und Verkehrsstationen. Dann kommt der Block „Ausbau“, also Ausrüstungstechnik wie etwa die Signaltechnik. Mit dem ersten Teil sind wir zufrieden und mit dem zweiten Teil sind wir engagiert unterwegs, damit das das auch so bleibt.
WAMS: Vor der Generalsanierung der Strecke Hamburg – Berlin haben Sie die in Deutschland erste Generalsanierung dieser Art überhaupt geleitet, bei der Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim. Welche Erfahrungen haben Sie aus diesem vorangegangenen Projekt mitgenommen?
Fassing: Die Erfahrungen, die wir auf der Riedbahn gemacht haben, beinhalten vor allem, wie organisieren wir Firmen, wie funktioniert die Zusammenarbeit an wichtigen Schnittstellen, welche technischen Konstellationen haben sich bewährt und welche gilt es zu vermeiden. Die Erkenntnisse, die wir hier übertragen haben, sind zum Beispiel bei der Leit- und Sicherungstechnik – wie montieren, wie steuern wir, wie sorgen wir dafür, dass die Abläufe funktionieren? Wir haben auf der Riedbahn eine ganze Menge gelernt, was wir jetzt weiter anwenden können, etwa, wie man vor dem Gleisbau die Ausrüstung ausbaut. Wenn wir mit dem Korridor zwischen Hamburg und Berlin fertig sind, werden wir wieder genau analysieren, was sich bewährt hat, in diesem Fall bei einem ganz anderen Korridor, der viel länger ist als die Riedbahn und der bei den Bauarbeiten einen anderen Mix an Gewerken erfordert als das vorangegangene Projekt.
WAMS: Wie verläuft eine Lernkurve bei so einem komplexen Projekt wie der Streckensanierung zwischen Hamburg und Berlin?
Fassing: Bei dieser Strecke ist der Anteil sogenannter Ingenieurbauten – von komplizierten Tunneln oder Brücken – nicht so hoch wie beispielsweise bei der Bahn-Infrastruktur innerhalb des Hamburger Stadtgebietes. Die große Herausforderung ist vor allem die Masse, das heißt die Baumenge. Viele Themen schaut man sich gleich am Anfang an und führt die Erkenntnisse daraus fort. Grundsatzthemen wie die Vergabestruktur, die Projektsteuerung und das Schnittstellenmanagement lassen sich schnell so verallgemeinern, dass wir sie dauerhaft anwenden können.
WAMS: Bauen Sie einen internen Wissensbestand aus den verschiedenen Generalsanierungen auf, der dann bei den Folgeprojekten immer weiter genutzt und erweitert wird?
Fassing: Ja, dafür gibt es bei uns ein zentrales Team. Die Projektleiter tauschen sich regelmäßig aus. Auch eine interne, themen- und kontaktbezogene Wissensbörse zu den einzelnen Projekten haben wir implementiert. Es wird viel Energie investiert, um das Wissen aus den einzelnen Generalsanierungen weitertragen zu können.
WAMS: Der öffentliche Druck ist hoch, dass sie bei den Generalsanierungen dieser vielbefahrenen Strecken im Zeitplan bleiben.
Fassing: Das ist hier nicht anders als bei der Sanierung der Riedbahn. Das wird auch bei allen künftigen Generalsanierungen so sein, denn jede hat eine hohe Bedeutung für den Verkehrsfluss. Und jedes dieser Projekte hat wieder seine eigenen Spezialitäten. Unser Auftrag ist, die Projekte so zu steuern, dass der Zeitplan nicht in Verzug gerät.
WAMS: Gibt es große Unterschiede bei den Belastungsprofilen dieser Strecken, bei der Anzahl der täglichen Zugpassagen oder den möglichen Höchstgeschwindigkeiten?
Fassing: Was all diese Strecken eint, ist eine sehr hohe Auslastung im Zugverkehr, eine hohe Trassennachfrage, die in der Regel den Güterverkehr, den Regional- und den Fernverkehr einschließt. Die technische Abnutzung dieser Strecken ist sehr hoch. Das sind die Kriterien, die wir für eine Generalsanierung herangezogen haben. Bei der hohen Belastung ist die Zeit für Arbeiten an den Anlagen nun mal knapp, weil sehr viele Züge fahren. Das ist gewissermaßen das Henne-Ei-Problem, das wir mit dem Konzept der Generalsanierungen lösen möchten.
WAMS: Ist es einfacher, eine Strecke komplett zu sanieren oder sie neu zu bauen?
Fassing: Die Herausforderung bei einer Neubaustrecke ist vor allem erst einmal, Baurecht zu schaffen – Planfeststellung, Planrecht, Planbegründung, Zugzahlen, Schallschutz, Erschütterungen, Betroffenheiten von Anwohnern. Die Planungen von Neubaustrecken dauern oft Jahrzehnte und damit viel länger als deren eigentlicher Bau. Die langen Diskussionen um eine mögliche Neubaustrecke zwischen Hamburg und Hannover sind dafür ja ein gutes Beispiel.
WAMS: Wo liegen die besonderen Schwierigkeiten bei den Generalsanierungen?
Fassing: Es geht vor allem darum, wie man mit den heutigen Regeln der Technik etwas in Anlagen und Strukturen einbaut, die vor 40, 50, vielleicht auch vor 70 Jahren konstruiert wurden. Abstände zwischen Elementen, Gefahrpunkte, etliches hat sich in der der Leit- und Sicherungstechnik über die Jahrzehnte verändert. Kalkuliert werden muss zum Beispiel auch, wie lange und wie sehr belastbar jahrzehntealte Bauwerke wie etwa Brücken heute noch sind. Solche Herausforderungen in einem Bestandsnetzprojekt habe ich beim Neubau nicht. Die Anforderungen sind sehr unterschiedlich.
WAMS: Gibt es bei der Deutschen Bahn ein internes Ranking, welche der Strecken bei dem Programm der Generalsanierungen einfacher oder schwieriger instand zu setzen sind?
Fassing: So etwas gibt es, aber das sind interne Diskussionen zwischen den Projektleiterinnen und -leitern. Die Profile der einzelnen Strecken sind völlig unterschiedlich. Die Region rund um die Riedbahn ist viel dichter besiedelt als die Gegend entlang der Strecke zwischen Hamburg und Berlin. Wir haben dort je Kilometer deutlich mehr gebaut. Zwischen Hamburg und Berlin ist die Länge die große Herausforderung – zum Beispiel bei der Frage, wie das Baumaterial optimal zum jeweils notwendigen Ort gebracht werden kann. Jedes Projekt hat so seine Eigenheiten. Eine Kollegin muss zum Beispiel ein Moor trockenlegen, um eine Strecke zu sanieren. Wir tauschen uns dazu regelmäßig aus und lernen voneinander.
WAMS: Kann eine generalsanierte Strecke das Gleiche leisten wie eine neu gebaute?
Fassing: Wenn wir heute neu planen, haben wir Regelblockabstände, möglichst gleiche Geschwindigkeiten, wenig Geschwindigkeitsveränderungen, sodass man mit einem möglichst gleichen Betriebsprogramm viele Züge fahren lassen kann. Das geht im Bestand nicht. Wenn wir eine Strecke neu bauen, dann wäre sie sicherlich für den Betrieb optimaler, weil wir sie einfach nach den heutigen Erkenntnissen bauen und nicht so wie vor 150 Jahren, als das System ganz anders gedacht wurde. Das kann man nicht so einfach nachrüsten. Wir optimieren vieles, wenn wir es sanieren, aber wir können die bestehende Infrastruktur nicht komplett verändern.
WAMS: Um wieviel leistungsfähiger wird die Strecke zwischen Hamburg und Berlin nach der Generalsanierung sein?
Fassing: Auf der Strecke kann heutzutage eine bestimmte Anzahl an Zügen fahren, und das mit einer gewissen Qualität. Wenn wir mehr Züge fahren lassen, sinkt irgendwann die Betriebsqualität. Das Ziel ist aber, die Betriebsqualität zu steigern. Das heißt, gleiches Betriebsprogramm, aber geschmeidiger – also zum Beispiel weniger Verspätungen. Die „Leistungsfähigkeit“ im Sinne von mehr Zügen verändern wir nicht.
WAMS: Optimieren Sie so eine Strecke vor allem nach dem Gesichtspunkt der Geschwindigkeit, also einer kürzeren Reisezeit, oder mit Ziel einer möglichst hohen Zuverlässigkeit?
Fassing: Es geht ganz klar darum, die Strecke zuverlässiger zu machen. Allein durch die Erneuerung der Technik sinkt die Störanfälligkeit. Das neue Element ist zuverlässiger als das alte, das schon 40 Jahre lang im Dienst steht. Wir bauen zum Beispiel neue Überleitstellen für Überholvorgänge ein oder auch neue Weichenverbindungen. In Wittenberge wiederum wird noch ein zusätzlicher Bahnsteig gebaut. Das alles dient dazu, das System zuverlässiger und robuster zu machen. Ein anderes Beispiel: Der sogenannte Berliner Außenring, der große Eisenbahnring um Berlin herum, kreuzt unsere Strecke zwischen Hamburg und Berlin. Vor und hinter dieser Kreuzung bauen wir in den Bahnhöfen mehr Weichenverbindungen ein. Das erhöht die Flexibilität, mit der Züge bei Bedarf ausweichen können. Durch viele einzelne Maßnahmen wird die Strecke im Tagesgeschäft deutlich robuster.
WAMS: Bei der Generalsanierung zwischen Hamburg und Berlin verzichtet die Deutsche Bahn darauf, die hochleistungsfähige digitale Stellwerkstechnik ETCS zu installieren. Ist diese Entscheidung nach wie vor richtig, diese Technik später eigens nachzurüsten?
Fassing: Ja, aus mehreren Gründen. Längst nicht alle Fahrzeuge, die zwischen Hamburg und Berlin fahren, sind für den Betrieb mit ETCS ausgerüstet. Damit ETCS gut funktioniert, sollten natürlich so viele Fahrzeuge wie möglich ausgerüstet sein. Das wird in fünf Jahren ganz anders aussehen. Aus der Generalsanierung der Riedbahn haben wir auch die Erfahrung gezogen, dass es wichtig ist, erst einmal die Gleise und Weichen zu erneuern und später die neue Stellwerkstechnik des ETCS-Systems zu installieren. Das ETCS-System ist deutlich anspruchsvoller auch bei kleinsten Veränderungen in der Infrastruktur. Wenn man zum Beispiel eine Weiche um einen Meter verschiebt, was im Gleisbau durchaus normal ist, muss man mit der heutigen Signaltechnik in der Regel nicht das Stellwerk umbauen, denn sie hat viel größere Toleranzen als das ETCS-System. ETCS hat nur eine Toleranz von etwa einem halben Meter. Bei einem heutigen Signal sind es durchaus mal 20 oder 30 Meter. Je mehr Änderungen im Spurplan ich habe, desto öfter muss ich das ETCS anpassen. Deshalb ist es ungünstig, das System zu installieren, während zugleich der Gleiskörper grundsätzlich überarbeitet wird.
WAMS: ETCS wird also in einigen Jahren bundesweit nachgerüstet werden, weil dieses digitale Signalsystem für eine höhere Leistungsfähigkeit der Bahn unverzichtbar ist.
Fassing: Ja, ETCS ist in vieler Hinsicht leistungsfähiger, zum Beispiel auch, wenn es darum geht, wie viele Züge man in einen Gleisabschnitt hineinbekommt. Hinzu kommt das grenzüberschreitende Thema des europäisches Zugsicherungssystems. Und letztlich braucht man mit ETCS keine klassischen Signale mehr an der Strecke. Damit entfällt in Zukunft der Aufwand, sie zu bauen und instand zu halten. All das ist aber erst dann wirtschaftlich, wenn möglichst viele Züge mit der entsprechenden Technik ausgerüstet sind.
Seit 2005 arbeitet der Wirtschaftsingenieur Julian Fassing, 47, für die Deutsche Bahn, derzeit als Projektleiter für die Generalsanierung der Strecke zwischen Hamburg und Berlin bei der Konzerntochter DB InfraGO. Von 2016 bis 2020 leitete er den Ausbau der Frankfurter S-Bahn mit zwei zusätzlichen Gleisen. Anschließend war er unter anderem Projektleiter bei der ersten Generalsanierung einer Hochleistungsstrecke der Deutschen Bahn, bei der Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim. Fassing lebt mit seiner Familie südlich von Frankfurt.
Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Er berichtet seit mehr als drei Jahrzehnten über die Entwicklung und den Ausbau der Verkehrs-Infrastruktur in Deutschland.
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