Deutschland sehnt sich nach einem neuen Wirtschaftswunder. Aber Reformen gibt es immer noch keine.

Es ist die ganz große Runde, die Katherina Reiche (CDU) an diesem Novembertag ins Berliner Telegraphenamt eingeladen hat. Die Lobbyisten der großen deutschen Konzerne sitzen hier, aus Industrie, der Banken-, Energie- und Pharmabranche. Dazu Vertreter von Industrieverbänden, Kammern und reichlich Ökonomen, vorneweg das Beraterteam der Ministerin. Ein paar Hundert sind es insgesamt. Sie hören sich an, was die Bundeswirtschaftsministerin als "Grundsatzrede" auf diesem ersten wirtschaftspolitischen Symposium des Ministeriums ankündigt hat. 

Doch bevor Reiche loslegt, geht es um die bronzene Büste, die unübersehbar auf einer weißen Stele auf dem Podium thront. Ein übergroßer Kopf des Mannes, der wohl wie kein anderer das Wirtschaftsministerium geprägt hat, als eine Art Übervater der sozialen Marktwirtschaft: Ludwig Erhard. 14 Jahre lang – von 1949 bis 1963 – hat er das Ministerium geführt, ihm verdankt Deutschland die Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre. Sein Slogan "Wohlstand für alle" hat sich eingebrannt. Die Skulptur zog 2007 mit dem damaligen Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) ins Wirtschaftsministerium ein. Seither mühten sich alle Wirtschaftsminister mehr oder weniger mit dem Mythos herum. 

Vorbild Ludwig Erhard

Doch als Robert Habeck (Grüne) zum Wirtschaftsminister aufstieg, ließ ihr Stifter, Herbert B. Schmidt, die Büste entfernen und stellte sie in sein Wohnzimmer am Chiemsee. Zu viele Subventionen, Interventionen, Restriktionen. Der Mann, Ehrenmitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung, aktiv im CDU-Wirtschaftsrat, sah das Erbe seines Helden in Gefahr. Schmidt verstarb 2024. 

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Katherina Reiche darf die Büste nun wieder im Ministerium aufstellen – als Dauerleihgabe. Erhard bleibt jetzt für immer. Ihr traut die Familie des Stifters offenbar mehr zu, wenn es um die Bewahrung von Erhards Erbe geht. Schließlich positionierte sie sich gleich zum Amtsantritt der Regierung als deren ordnungspolitisches Gewissen, indem sie als Vorbilder Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack erkor. 

Doch statt einer klaren Wirtschaftsagenda sagt Reiche in ihrer Rede an diesem Tag das, was sie schon an vielen Stellen gesagt hat. Dass die Unternehmen "Freiräume für Innovationen" bräuchten, dass Energie wieder bezahlbar werden müsse. Dass die Regierung den Mut finden müsse, "auch gegen Widerstände" Reformen der sozialen Sicherungssysteme durchzuführen. Von Mehrarbeit, Karenztagen und einem schwächeren Kündigungsschutz für High-Performer ist die Rede. Sie fordert Mut und Willen zur Anstrengung, viel ist von Schmerzen die Reden. Zeiten des Umbruchs seien Zeiten der Anstrengung. Schon Erhard sei das bewusst gewesen.

Siemens-Vertreterin: Gaskraftwerke endlich ausschreiben

Der Applaus darauf klingt eher pflichtschuldig. Die Vertreterin von Siemens Energy schüttelt den Kopf: Die Rede sei ja ganz nett, sagt sie, aber eigentlich interessiere sie nur, wann die Gaskraftwerke denn nun endlich ausgeschrieben werden. Reiche hatte gleich nach ihrem Amtsantritt angekündigt, dass neue Gaskraftwerke mit einer Gesamtkapazität von mindestens 20 Gigawatt gebaut werden sollten, deutlich mehr als ihr Amtsvorgänger angepeilt hatte. Damit wollte sie die Energiewende marktwirtschaftlicher ausgestalten. 

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Doch nun muss sie womöglich ihre Pläne eindampfen und kann nur das durchsetzen, was Habeck schon durchgebracht hatte. Darauf geht sie in ihrer Rede aber nicht ein. Reiche bleibt grundsätzlich: Entlastungen bei den Energiepreisen seien zwar wichtig, aber das sei keine ordnungspolitische, geschweige denn langfristige Lösung. Wie eine solche aussehen soll, verrät Reiche dann aber nicht. Zuletzt hatten sogar ihre eigenen Wirtschaftsberater Reiche vorgehalten, nicht den Mut zu haben, Wettbewerb im Strommarkt zu ermöglichen – und etwa mit unterschiedlichen Stromzonen zu arbeiten – günstig im Norden, teuer im Süden.

"Wo bleiben die Reformen?"

Auch die beiden Vertreter des Verbands der forschenden Pharmaunternehmen (VfA) können wenig mit Reiches Grundsatzrede anfangen. "Noch eine Agenda zur Stärkung der Wirtschaft", stöhnt der eine. "Was wir brauchen, sind Reformen. Jetzt." Reiches Dauer-Appell, sich mehr anzustrengen, sei deplatziert, sagt der Vfa-Vertreter. Junge Gründer in der Biotech-Pharmabranche "arbeiten alle wie verrückt". Es fehle nicht an Mut, Ideen oder Arbeitswillen. Es fehle an privatem Kapital und versprochenen staatlichen Fonds, die privates Kapital akquirieren. Wo etwa bleibe Reiches Deutschlandfonds, mit dem privates Beteiligungskapital generiert werden soll, fragt eine Vertreterin der Private-Equity-Branche. Deutschland sei hier Schlusslicht. Es sei fünf nach 12. "Wo bleiben die Reformen?" 

Ein Gefühl, das auch der Ökonom Justus Haucap, einer der Berater Reiches, dann auf der Bühne zum Ausdruck bringt: "Wir müssen vorankommen, viele warten sehnsüchtig auf ein Signal. Ich will irgendein Zeichen, dass es losgeht mit Reformen!" Der Politik scheint es an Mut zu fehlen. Oder dem Wirtschaftsministerium an Macht.

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