Es mag am Titel der Veranstaltung liegen, dass nicht alle 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihre Vertreter an diesem Montag nach Berlin geschickt haben. „Friends of the Industry“ („Freunde der Industrie“) nennt sich die Gruppe von Staaten, die Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) eingeladen hat. Zuletzt hatte sich dieser Kreis 2019 in Österreich getroffen. Nun sind immerhin Vertreter von 18 Ländern Reiches Einladung gefolgt – darunter vier Minister.

Dass es der Industrie schlecht geht, ist hinreichend bekannt. Laut einer aktuellen Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln) wollen 41 Prozent der Industrieunternehmen in Deutschland im kommenden Jahr Stellen abbauen. Nur jedes siebte plant, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Auch Reiche stellt die schwierige Lage der Wirtschaft stets schonungslos dar: Die Industrieproduktion schrumpft seit 2022, Unternehmen wandern ab, die Produktivitätslücke gegenüber den USA wird größer. „Die EU ist zurückgefallen und fällt weiter zurück“, warnt die Ministerin.

Um diesen Abwärtstrend zu stoppen, hat sie die eigentlich eingeschlafene Industriestaaten-Initiative wiederbelebt. Mit einem neuen Gipfeltreffen und einem neuen Papier, in dem sich viele bekannte Maßnahmen finden. Die Bandbreite reicht von Bürokratieabbau über Investitionen in Künstliche Intelligenz und Cloud-Infrastruktur bis zur Überprüfung des Verbrennerverbots 2035. Letzteres unter Berücksichtigung von Technologieoffenheit und „European Content“, also einer Bevorzugung von in Europa hergestellten Bauteilen.

Man hat diese Forderungen schon einmal gehört, einen Teil davon setzt die EU-Kommission auch bereits um. Trotzdem haben nur 17 EU-Staaten die „Berlin Declaration“ unterschrieben. Es fehlen in der Gruppe Länder wie Dänemark, Ungarn, Irland, Portugal und Schweden. Den Lobbygruppen der Wirtschaft in der Hauptstadt war der Gipfel mit seinen Forderungen nicht einmal einen Kommentar wert. Die „Freunde der Industrie“ hatten auch vergessen, die Industrie selbst zu ihrem Treffen einzuladen.

Immerhin eine Nachricht hat Reiche dabei: Der Industriestrompreis, über den ihre Beamten seit Monaten mit der EU-Kommission verhandeln, soll ab 1. Januar tatsächlich gelten. „Wir sind in den letzten Zügen der Verhandlungen mit der Europäischen Kommission“, sagt die Ministerin. Außerdem gebe es gute Signale, dass die sogenannte Strompreiskompensation deutlich über 2030 hinaus verlängert werden könne.

Dieses Instrument ist für große Industrieunternehmen, etwa Stahlhersteller, deutlich wichtiger als der auf drei Jahre angelegte Industriestrompreis. Es wird sicher auf dem nächsten Gipfeltreffen eine Rolle spielen, das für Reiche in dieser Woche ansteht: Am Donnerstag treffen sich die Stahlkonzerne und die IG Metall mit Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und mehreren Ministern im Kanzleramt.

„Doppelmoral“ der EU

Dort wird es auch um höhere Schutzzölle für die heimischen Stahlhersteller gehen, wie sie die EU-Kommission vorgeschlagen hat. Diese Vorschläge seien hilfreich, sagt Reiche am Rande des Industriefreunde-Gipfels. Sie verstehe aber auch die Sorgen der Autoindustrie – die gegen die Zölle ist – und anderer Staaten. Die Zölle dürften nicht dazu führen, dass das geplante Freihandelsabkommen mit Indien in Gefahr gerate, warnt die Ministerin.

Ihr indischer Ministerkollege Piyush Goyal hatte die EU-Pläne kürzlich bei einem Auftritt in Berlin kritisiert und den Europäern eine „Doppelmoral“ vorgeworfen: Einerseits würden sie von freien Märkten sprechen, andererseits ihre Industrie schützen, indem sie den Stahl auch von denjenigen Ländern nicht mehr kauften, die sich nicht an unfairen Handelspraktiken beteiligen.

Gemeint ist China. Die Volksrepublik hat enorme Überkapazitäten in der Stahlindustrie und vielen anderen Branchen. Durch Dumpingpreise haben chinesische Anbieter etwa die europäische Solarindustrie zerstört. Das soll beim Stahl nicht wieder passieren. „Wir waren sehr naiv in den vergangenen Jahren“, sagt Stéphane Séjourné, Vizepräsident der EU-Kommission, beim gemeinsamen Auftritt mit Reiche in Berlin. Obwohl China in dem Forderungspapier der EU-Industrie-Staaten nicht vorkommt, ist es beim Stichwort „Resilienz“ doch immer gemeint.

„Wir haben heute Abhängigkeiten in Bezug auf kritische Rohstoffe, insbesondere gegenüber China, die inakzeptabel sind. Diese Abhängigkeiten müssen reduziert werden“, sagt Séjourné. Für ihn gibt es drei wesentliche politische Ziele: neue Märkte im Ausland erschließen, an der internen Wettbewerbsfähigkeit der EU arbeiten und den Markt schützen, wo es nötig ist.

Im Papier der „Industriefreunde“ stehen dafür einige Ansätze. Beispielsweise die Schaffung „grüner Leitmärkte“ – eine Idee, die Ex-Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) schon propagiert hatte und die Reiche weiterhin verfolgt. Die CDU-Ministerin erweitert das politische Feld aber noch um die Rüstungsindustrie. „Wir müssen stärker öffnen für Dual Use. Zivile Sicherheit und militärische Sicherheit wachsen immer mehr zusammen“, sagt sie. Im Papier wird dieser Punkt am Rande beim Thema Innovation erwähnt.

Auf dem Stahlgipfel am Donnerstag dürften die Beschlüsse konkreter werden als bei der EU-Konferenz. SPD-Chef und Vizekanzler Lars Klingbeil hatte bereits vor Wochen einen Vorbereitungstermin mit den Gewerkschaften im Finanzministerium abgehalten. Und der Kanzler hatte angekündigt, dass solche Treffen für ihn nur Sinn ergeben, wenn dort tatsächlich etwas beschlossen wird.

Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzcenter von WELT und „Business Insider Deutschland“ erstellt.

Daniel Zwick ist Wirtschaftsredakteur in Berlin und berichtet für WELT über Wirtschafts- und Energiepolitik, Digitalisierung und Staatsmodernisierung.

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