Erben hält vom Arbeiten ab
Die Union fordert, dass die Deutschen mehr schuften. Beim ungehobenen Potenzial spielen allerdings diejenigen Beschäftigten keine Rolle, die es sich schlicht leisten können, kürzerzutreten.
Influencer Julian Kamps hat die Arbeitszeit-Debatte neu entfacht. "100 Prozent geht gar nicht", findet der Mittzwanziger - er müsse seine Wochenstunden auf jeden Fall reduzieren. Da sind sie wieder, die "faulen jungen Leute". Kein Wunder also, dass die deutsche Wirtschaft seit Jahren nicht aus dem Tief kommt? Viele wollen nur noch in Teilzeit arbeiten, ob jung oder alt.
Dabei wird sich der Fachkräftemangel mit dem massenweisen Renteneintritt der Babyboomer noch einmal drastisch verschärfen. Zu viele Rentner werden dann außerdem zu wenigen Beitragszahlern gegenüberstehen. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche und ihre Parteifreunde von CDU und CSU sowie Wirtschaftsvertreter fordern deshalb, dass die Deutschen mehr und länger arbeiten. Der Aufschrei auf der Arbeitnehmerseite ist groß, auch beim Koalitionspartner SPD. Vizekanzler Lars Klingbeil etwa verwies im Interview mit ntv auf Dachdecker, Pflegekräfte oder Erzieherinnen, die sich "wirklich kaputtmachen und die schon Schwierigkeiten haben, bis 67 zu kommen". Bei der hohen Teilzeitquote von Frauen wird auf mangelnde Kinderbetreuung verwiesen.
Eine andere Gruppe von Arbeitnehmern wird in der Debatte hingegen nicht zu mehr Einsatz für den Wohlstand des gesamten Landes gemahnt: die Gutsituierten. Dabei kostet auch ihre reduzierte Arbeitszeit den Staat Milliarden, und sie arbeiten nicht weniger, weil sie körperlich oder zeitlich am Limit sind, sondern weil sie es sich leisten können. Von Erbschaften und Schenkungen profitieren Studien zufolge besonders diejenigen, die bereits über hohes Vermögen oder Einkommen verfügen.
Besonders ältere Erben treten kürzer
Eine aktuelle Untersuchung von Schweizer Wissenschaftlern der Universität Lausanne und der ETH Zürich kommt zu dem Ergebnis, dass Erbschaften das Arbeitsangebot deutlich senken: Wer erbt, reduziert eher seine Arbeitszeit oder hört sogar ganz auf zu arbeiten. Besonders stark ist der Effekt demnach bei älteren Arbeitnehmern, die oft früher in Rente gehen, wenn sie erben. Am stärksten ist die unmittelbare Wirkung auf die Arbeitszeit laut der Studie, wenn Menschen im Alter zwischen 55 und 64 Jahren erben. Da Erben großer Vermögen in der Regel bereits im Voraus wissen, was auf sie zukommt, reduzieren sie ihren Arbeitseinsatz zudem häufig auch schon vor dem Eintreten der Erbschaft.
Auf die höheren Altersstufen entfällt der Großteil der Erbschaften: Im Durchschnitt wird mittlerweile im Alter von 60 Jahren geerbt. Die Auswirkungen auf die Volkswirtschaft sind erheblich. Die geleisteten Arbeitsstunden insgesamt sinken durchs Erben nach Berechnungen der Forscherinnen und Forscher um 1,7 Prozent, wodurch das Bruttoinlandsprodukt um geschätzt 1,1 Prozent geschmälert wird.
Erben senken ihre Arbeitszeit der Studie zufolge insgesamt stärker, wenn sie mit dem Geldsegen gerechnet haben. Die Autoren um Marius Brülhart haben die Einkommensentwicklung bei rund 135.000 Erbschaften und gut 5000 nennenswerten Lottogewinnen ausgewertet. Vergleichbare Lottogewinne haben noch stärkere unmittelbare Auswirkungen als vergleichbare Erbschaften. Im Gegensatz zu Lottogewinnern verringern Erben ihr Arbeitsangebot nämlich bereits vor dem konkreten Erhalt der Erbschaft - zum Beispiel weil sie wissen, dass sie sich um ihre spätere Alterssicherung weniger Sorgen zu machen brauchen als Nicht-Erben.
Frauen im mittleren Alter reduzieren stärker
Bei Frauen wirkt sich eine Erbschaft der Untersuchung zufolge stärker auf die Arbeitszeit aus als bei Männern. Im Alter von 35 bis 44 Jahren reduzieren Erbinnen ihre Erwerbstätigkeit am stärksten. Die Wissenschaftler führen das auf die traditionelle Rollenverteilung bei der familiären Kinderbetreuung zurück.
Jedes Jahr werden in Deutschland Schätzungen zufolge rund 400 Milliarden Euro vererbt, wie das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) ausführt. "Durch die Inflation der vergangenen Jahre dürfte dieser Wert allerdings sogar noch höher liegen", sagt Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des IMK.
Die Schweizer Studie zeigt auch, dass eine höhere Erbschaftssteuer Menschen dazu veranlassen dürfte, etwas mehr zu arbeiten. Die SPD drängt zurzeit auf eine Reform der Erbschaftssteuer. Die Union warnt vor den Folgen für Unternehmen, allerdings könnte es sein, dass das Bundesverfassungsgericht die Regierung zu einer Reform zwingt. Dort ist ein Verfahren anhängig, bei dem es um die Frage der Vereinbarkeit der Begünstigungen für Firmenerben mit dem Grundgesetz geht. Fraktionschef Jens Spahn hat bereits Kompromissbereitschaft signalisiert: Bei der Vermögensverteilung sei die Frage, "wie man auch da eine größere Gerechtigkeit herstellen kann".
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