Eine der bitteren Erkenntnisse für die etablierten Parteien aus der Europawahl im vergangenen Jahr war, wie stark die Alternative für Deutschland aus ihrer Dominanz auf Social-Media-Kanälen im allgemeinen und auf TikTok im besonderen Honig saugen konnte.

Eine Studie der Universität Potsdam lieferte dazu den empirischen Befund: Die AfD sei bei Erstwählern doppelt so erfolgreich wie alle anderen Parteien zusammen, auch das junge Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) werde auf dem Videoportal stark von Erstwählern konsumiert, so die Forscher.

Kurzvideos? Kann ich auch, sagten sich viele Politiker und ließen sich eifrig eigene Profile auf den Plattformen anlegen. Zu eher zweifelhafter Berühmtheit gelangten nicht erst ab dann die frühere Verteidigungsministerin Christine Lambrecht im explodierenden Silvester-Feuerwerk von Berlin-Mitte („Mitten in Europa tobt ein Krieg“), Ex-Kanzler Olaf Scholz mit seiner Aktentasche („Ein treuer Freund, sozusagen“), Ex-Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck („Ich habe einen TikTok-Kanal!“), die tanzende Emilia Fester und natürlich Markus #SöderIsst.

Unerreicht in dieser Kategorie bleibt freilich Ex-Außenministerin Annalena Baerbock, die, nachdem sie die ausgewiesene Topdiplomatin Helga Schmid für den Job der Präsidentin der UN-Generalversammlung weggebissen hatte, zum Song „Empire State of Mind“ von Jay-Z und Alicia Keys einen 14-sekündigen Einblick in ihr vom deutschen Steuerzahler finanziertes Leben in New York gab. „Peinlicher geht’s nicht“, kommentierte WELT-Autor Frédéric Schwilden.

Erfahrungen, aus denen Politiker, zumal wenn sie nur für fünf Cent über die Würde ihrer Ämter nachdenken, ihre Lehren ziehen können. Oder eben nicht. Und so machte am Mittwoch ein weiteres Reel aus dem Dunstkreis des Bundeskabinetts die Runde. In der Hauptrolle: Verena Hubertz (SPD), ihres Zeichens Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen der Bundesrepublik Deutschland.

„I’m gonna love you until you hate me“, liefern Black widow ft. Rita Ora den Soundtrack, und Hubertz, die gerade ihr erstes Kind erwartet, lacht und klatscht vor dem Reichstagsgebäude rhythmisch dazu, was das Zeug hält. Untertitelt ist der Sechs-Sekunden-Clip mit den Worten: „Applaus an mich selbst, weil ich die Geduld nicht verliere, bis der Bau-Turbo endlich starten kann.“

Das Video, man ahnt es, kommt überwiegend nicht so richtig gut an. „Jetzt klatscht die SPD schon für sich selbst“, kommentierte „Peter“, und „Seemik“ mutmaßte: „Da hat jemand massig Zeit.“ Das trifft einen wunden Punkt: Denn Deutschland sieht sich einer beispiellosen Wohnungsnot ausgesetzt.

Die Vorgängerregierung scheiterte regelmäßig krachend an den Neubauzielen, die sie sich selbst gesetzt hatte, und die Zahl der Baugenehmigungen macht wenig Hoffnung, dass sich daran unter der neuen Koalition schnell etwas ändern könnte. Auch der von Hubertz beklatschte Bau-Turbo wird in der Branche mit großer Skepsis verfolgt und dürfte allein kaum ausreichen, die Misere zu beheben.

Wohnungsnot trifft die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit

Die Wohnungsknappheit, das mag im Häppchen- und Chauffeurs-Glamour der Berliner Politblase manchmal in Vergessenheit geraten, ist real. Sie trifft Millionen von Menschen im Land in ihrer unmittelbaren Lebenswirklichkeit.

Umso wünschenswerter wäre in dieser Situation das Feingefühl, um jeden Preis der Welt den Eindruck zu vermeiden, die Verantwortlichen würden nicht buchstäblich jede Sekunde ihrer Arbeitszeit darauf verwenden, endlich die Probleme zu lösen, die ihre Parteien, etwa durch das jahrelange Gewährenlassen illegaler Migration, zum Teil selbst zu verantworten haben.

Das Problem an derartigen Auftritten der Politiker ist auch, dass die Videos über die eigentliche Aussage hinaus weitere unerwünschte Botschaften transportieren können. Was etwa Hubertz in ihrem – man muss es leider so deutlich sagen –Quatsch-Video unfreiwillig zu erkennen gibt, ist, wie wenig Empathie sie für die Diskrepanz zwischen ihrem eigenen in jeder Hinsicht privilegierten Ministerinnen-Dasein und den Nöten der Menschen jenseits der Berliner Ringbahnrepublik aufbringt.

Die wissen nach der Hochinflation Anfang dieses Jahrzehnts – auch wegen knappheitsbedingt hoher Mieten – oft kaum mehr, wie sie mit ihrem Geld das Monatsende erreichen sollen. Ihnen bleibt nur, sich von der Ministerin verhöhnt zu fühlen. Wer sich das bewusst macht, kann eigentlich nicht ernsthaft auf die Idee kommen, ein solches Video zu veröffentlichen.

Was die Ministerin neben 285 TikTok-Likes, Fremdscham und jeder Menge Häme mit dem Video erreicht hat, dürfte leider vor allem eines sein: ein Anwachsen der Wut und Verdrossenheit gegenüber den etablierten Parteien im Wahlvolk – und damit mutmaßlich eine weitere Stärkung der politischen Ränder.

Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und Business Insider erstellt.

Michael Höfling schreibt für WELT über Immobilien, Wirtschaftspolitik und Gold. Gemeinsam mit Michael Fabricius ist er für den Immobilien-Newsletter „Frage der Lage“ zuständig, den Sie hier abonnieren können.

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