Von der Zukunft überholt
Aus den Trümmern und Ruinen der „Kammerrebellion“ ging die Handelskammer Hamburg stärker und moderner hervor, als sie es bis dahin war. Jahrelang wirkte die wichtigste Vertretung der Hamburger Wirtschaft seit 2017 durch interne Machtkämpfe wie gelähmt. Um wieder zu einer vernehmbaren Stimme zu werden, gab sich das im Jahr 2020 neu gewählte Plenum ein Basisprogramm, das über die Wirtschaft hinaus in die Stadtgesellschaft hineinwirken sollte: „Hamburg 2040 – wie wollen wir künftig leben und wovon?“ Ein integraler Teil dieses Zielbildes ist das Konzept „Hamburg Net Zero: Auf dem Weg zur klimaneutralen Wirtschaft die Wettbewerbsfähigkeit stärken“.
Gemeinsam mit der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris erarbeitete die Handelskammer eine Handlungsempfehlung, die sie im März 2025 auf 76 Seiten vorlegte. Deren Kern: den Klimaschutz als Chance sehen, nicht auf den schwerfälligen Staat warten, Innovationen mutig vorantreiben. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kam Anfang 2024 auf Einladung der Kammerführung zu einem Klimakongress nach Hamburg. Mit alldem, vor allem auch durch die Kooperation mit überstaatlichen Institutionen, will die Handelskammer zeigen: Hier geht eine Stadt gemeinsam mit ihrer Wirtschaft international voran.
„Die Berücksichtigung von Klimaaspekten in den Geschäftsmodellen wird zum entscheidenden Erfolgsfaktor. Warten Unternehmen hingegen auf gesetzliche Anforderungen und Anpassung der Rahmenbedingungen, vergeben sie eine große Chance“, heißt es im Papier „Net Zero“: „Diese Chancen machen einen klimaneutralen Wirtschaftsstandort Hamburg im Jahr 2040 möglich, auch wenn einige Unternehmen eher, andere später ,CO₂ net zero‘ wirtschaften. Wichtig ist, die Transformation rasch anzugehen, um den Wirtschaftsstandort möglichst bis zum Jahr 2040 in der Netto-Bilanz klimaneutral aufzustellen.“
Am vergangenen Sonntag allerdings überholte die Wirklichkeit das schöne Zielbild auf eine Weise, die der Wirtschaft in Hamburg nun nicht gefällt. Die Wählerinnen und Wähler votierten bei einem Volksentscheid dafür, dass die gesamte Stadt bis 2040 eine „klimaneutrale“ Bilanz vorzulegen habe. Hamburgs Kammern und Verbände geißelten das Ergebnis sogleich.
„Die nun beschlossenen starren Vorgaben, bürokratischen Gremienstrukturen und jährlich drohenden Sofortprogramme außerhalb parlamentarischer Kontrolle sind der falsche Weg“, sagte Handelskammer-Präses Norbert Aust, der für die Kammer mehr als 180.000 Hamburger Unternehmen repräsentiert. „Sie werden viele Unternehmen bei ihren eigenen Transformationsanstrengungen behindern. Es ist zu befürchten, dass der Standort Hamburg durch diese unsicheren Rahmenbedingungen im Wettbewerb um Investitionen, Arbeitsplätze und Innovationen zurückfällt.“
Aust wiederholte seine Kritik am Mittwochabend im Forum der Handelskammer. Gemeinsam mit dem Industrieverband Hamburg (IVH) hat die Kammer erstmals zum „Tag der Hamburger Industrie“ geladen. Dass diese Konferenz mit mehr als hundert Teilnehmern aus Hamburger Unternehmen nur drei Tage nach dem Volksentscheid stattfindet, ist Zufall – aber auch eine gute Gelegenheit, in Vorträgen und Diskussionen eine erste Einordnung dieses Ergebnisses vorzunehmen.
Auch Hamburgs Umwelt- und Energiesenatorin Katharina Fegebank (Grüne) nimmt an einem der Podien teil. Für die Grünen ist der Volksentscheid im Grunde ein Katalysator – setzt das Wahlergebnis doch ein Ausrufezeichen hinter das grüne Kernthema des Klimaschutzes, und das in einer Zeit, in der grüne Themen in der öffentlichen Debatte immer weiter zurückgedrängt werden. Und die Volksinitiative hat die Abstimmung gewonnen, obwohl sie dabei von den Senatsmitgliedern der Grünen nicht unterstützt worden ist. Der Senat hatte sich darauf festgelegt, dass Hamburg die „Klimaneutralität“ bis 2045 erreichen soll. Fegebank muss auf dem Podium in den rhetorischen Spagat gehen – den Volksentscheid nicht kritisieren, und die Wirtschaft zugleich beruhigen.
Deshalb sagt sie an diesem Abend in der Handelskammer Sätze, die ebenso eine Senatorin der CDU, der SPD oder der FDP sagen könnte: „Die Industrie ist unser Kraftzentrum. Bis 2030 will Hamburg 70 Prozent seiner Treibhausgas-Emissionen reduzieren, verglichen mit 1990, und die Industrie ist dabei bereits voll auf Kurs. Am Industriestandort darf und wird nicht gerüttelt werden.“ Denn immerhin sei die Hansestadt ja der größte zusammenhängende Industriestandort Deutschlands: „An den Zahlen bis 2030 wird sich nichts ändern, aber am Hochlaufprozess bis 2040. Wir werden jetzt einen sehr offenen und konstruktiven Diskussionsprozess beginnen, und ich bin zuversichtlich, dass uns das gemeinsam mit der Industrie gelingen wird.“
Rund 3000 in Hamburg erfasste Industrieunternehmen mit insgesamt etwa 110.000 Arbeitsplätzen erwirtschaften derzeit laut Handelskammer einen Umsatz von rund 100 Milliarden Euro im Jahr. Hamburgs Industrie – ebenso wie die Logistikbranche und andere Wirtschaftszweige – hat in den vergangenen Jahren schon etliches geleistet, um einer „klimaneutralen“ Wirtschaftsweise näherzukommen: etwa die Integration von Ökostrom und anderen erneuerbaren Energien in die Produktionsprozesse, die Vorbereitung einer künftigen Wasserstoffwirtschaft, die Nutzung von Industrieabwärme im Fernwärmenetz der Stadt, die Minimierung von Luftschadstoffen und die fortwährende Optimierung von Produktions- und Transportprozessen. Mit dem Papier „Hamburg Net Zero“ zeigt die Handelskammer sehr konkret, wie die Sektoren Gewerbe, Handel, Dienstleistungen, Industrie und Verkehr bereits 2040, fünf Jahre früher als vom Senat bislang geplant, ihre aktuelle Jahresemission von rund acht Millionen Tonnen Kohlendioxid (CO₂) auf nahe null bringen können.
Zu den Handlungsempfehlungen zählen neben dem Einsatz erneuerbarer Energien unter anderem auch der Auf- und Ausbau von Stoffkreisläufen, die weitere Steigerung der Energie- und Gebäudeeffizienz, die Anpassung von Strategien und Geschäftsmodellen, mehr Transparenz und Austausch durch Vernetzungen von Unternehmen und Akteuren, die Abscheidung und unterirdische Einlagerung von Kohlendioxid (CCS) oder dessen Nutzung in der chemischen Industrie und der Energiewirtschaft (CCU), die Errichtung „klimaneutraler“ Gewerbeparks, die gemeinsame Energiebeschaffung durch Unternehmen oder auch der Aufbau eines eigenen Hamburger Offshore-Windparks.
Von allen diesen Modernisierungen verspricht sich die Handelskammer unter anderem eine höhere Attraktivität des Standorts für Talente und Fachkräfte zum Aufbau einer „klimaneutralen“ Wirtschaft, steigende Verkaufschancen für Produkte und Dienstleistungen und einen besseren Zugang zu Kapital und Forschungsmitteln. „Hamburg kann sich als deutsche Hauptstadt eines ,Clean-Tech‘-Marktes etablieren“, sagt Björn Jesse vom Beratungsunternehmen Drees und Sommer.
Die Hamburger Wirtschaft fordert einen umfassenden Abbau von Bürokratie, um das Ziel einer „Klimaneutralität“ überhaupt erreichen zu können – doch zugleich verlangt die Handelskammer in ihrem Papier auch eine klar fokussierte staatliche Strategie für den Umbau des Energiesystems, Investitionen in die Infrastruktur und in die Wissenschaften, faire Wettbewerbsbedingungen, Bonus- und Malussysteme bei den Emissionen für Treibhausgase zumindest auf europäischer Ebene, eine beschleunigte Erneuerung der Bausubstanz.
In etlichen Details und Anregungen wirkt „Hamburg Net Zero“ wie eine Blaupause für die nun siegreiche Volksinitiative zur Klimaneutralität – weil das Papier letztlich alle Lebensbereiche erfasst. Genau das allerdings wollte die Handelskammer nicht – sich für das Ziel einer vorgezogenen „Klimaneutralität“ der gesamten Stadt politisch vereinnahmen lassen. „Das Ergebnis des Volksentscheids ist das Gegenteil dessen, was wir wollen“, sagt Handelskammer-Hauptgeschäftsführer Malte Heyne. „Wir wollen mehr Klimaschutz mit unternehmerischen und marktwirtschaftlichen Mitteln erreichen und nicht durch mehr Bürokratie und Kontrolle.“ Man hoffe nun darauf, dass der Senat in seine überarbeitete Strategie für eine klimaneutrale Stadt bis 2040 möglichst viele Ideen und Impulse aus der Vorlage Hamburg Net Zero übernehme.
Klar ist allerdings, und das wissen auch die Initiatoren des Volksentscheids: Ohne die entsprechenden nationalen und internationalen Weichenstellungen hat Hamburg keine Chance, bis 2040 „klimaneutral“ zu werden. Ein Beispiel: Aurubis ist der modernste Kupferhersteller der Welt und der größte außerhalb Chinas. In Hamburg hat Aurubis seine Luftschadstoffe in den vergangenen Jahrzehnten so stark gesenkt, dass es sein größtes Werk noch immer in direkter Nähe zum Stadtzentrum betreiben kann, ohne ständig in Konflikte mit Wohngebieten zu geraten. Aurubis koppelt einen wachsenden Teil seiner Abwärme in das Hamburger Fernwärmenetz aus, und es investierte zuletzt unter anderem 30 Millionen Euro in einen Ofen zur Kupferproduktion, der mit Wasserstoff anstelle von Erdgas betrieben werden kann.
Doch dafür müsste es zunächst einen funktionierenden internationalen Markt für Wasserstoff geben. „Wir bräuchten für einen wirtschaftlichen Betrieb einen Preis von zwei Euro je Kilogramm Wasserstoff, aktuell kostet Wasserstoff am Weltmarkt aber sechs bis zehn Euro je Kilogramm“, sagt Aurubis-Kommunikationschef Tore Prang. Und dieser Wasserstoff ist noch nicht einmal „klimaneutral“ erzeugt.
Christoph Schwieger hingegen rät dazu, dass Hamburg sich bei allen Herausforderungen auch seiner Stärken besinnen sollte. Als neuer Staatsrat in der Hamburger Behörde für Wirtschaft und Innovation ist Schwieger zugleich auch verantwortlich als Industriekoordinator des Senats. Neben einer starken und breit organisierten Wirtschaft, neben Kapital und unerschlossenen Flächen wie etwa in Billbrook habe Hamburg auch herausragende Universitäten, all das müsse miteinander noch enger verbunden werden. Das Röntgenlaser-Zentrum Desy in Bahrenfeld sei eine „Welt-Kathedrale der Wissenschaft“, etwa für die Materialforschung: „Wir haben einen harten Gang vor uns und müssen sehr konzentriert arbeiten“, sagt Schwieger in der Handelskammer zum Thema Klimaneutralität. „Und dafür braucht Hamburg noch mehr den unbedingten Willen zur Technologieführerschaft.“
Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Seit Jahrzehnten berichtet er unter anderem über die Anstrengungen der Industrie für einen besseren Klimaschutz.
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