"Die Autoindustrie rettet sich - aber nicht mehr in Deutschland"
Der Strukturwandel in der Autoindustrie trifft die Zulieferer mit voller Wucht. Es hagelt Insolvenzen, Zehntausende Jobs brechen weg. ntv.de fragt Branchenkenner Thomas Köhler nach den Gründen für diesen Flächenbrand, welche Fehler die Politik gemacht hat - und welche Firmen jetzt noch eine Zukunft haben.
ntv.de: Die Aussichten für die Zuliefererbranche sind düster. Bis 2030 könnten laut Prognosen bis zu einem Drittel der Jobs verschwinden. Wie konnte es so weit kommen?
Thomas R. Köhler: Die Zulieferer leiden seit Jahrzehnten unter hohem Kostendruck, den die mächtigen Autohersteller weitergeben. Zulieferer sind meist kleine Unternehmen. Die Firma Kiekert baut für jedes fünfte Auto auf der Welt Schlösser, aber selbst dieser große Anbieter von Schlüsseltechnologien ist bereits zweimal pleitegegangen. Hinzu kommt: Viele Zulieferer gehen zunehmend dorthin, wo die Autos gebaut werden. Der neue BMW ix3, das Elektro-Flaggschiff, wird in Ungarn produziert - und viele Zulieferer ziehen mit.
Die Zulieferer wandern ebenfalls ab?
Genau. Mit den Herstellern verlagert sich auch die gesamte Zuliefererkette. Zwar kommen noch Teile aus Deutschland, aber viele Zulieferer siedeln sich in der Nähe dieser neuen Werke an, beispielsweise in Osteuropa. Gleichzeitig holen die Autohersteller angesichts der schwachen Konjunktur immer mehr Produktion zurück - bis hin zu ganzen Fahrzeugen. Früher ließ Volkswagen Sondermodelle bei Karmann in Osnabrück fertigen. Heute ist Karmann Geschichte und ein Teil des VW-Konzerns. Mit dem Wandel zur E-Mobilität haben die Automobilhersteller ein großes Interesse daran, die Wertschöpfungstiefe zu erhöhen und damit ihre eigenen Arbeitsplätze zu sichern.
Seit wann gibt es dieses Abwanderungsphänomen?
Der Wandel begann vor Jahrzehnten, als die lokale Struktur noch intakt war. Die letzte große Welle kam in der Pandemie, als die Nachfrage einbrach und Fertigungsaufträge nach Osteuropa wanderten – dauerhaft. Wenn bei einem Autobauer eine Stelle verschwindet, sind es bei den Zulieferern drei, weil komplizierte Teile mehrere Wertschöpfungsstufen durchlaufen. Es können vier bis fünf Ebenen in der Zuliefererkette betroffen sein. Die Branche ist viel volatiler, als wir uns eingestehen wollen. Und die Auswirkungen auf die Arbeitsplätze sind viel größer als bei den Autoherstellern.
Sie sagten kürzlich, die Zulieferer müssten sich neu erfinden. Was meinen Sie damit?
Der zentrale Trend in der Autoindustrie ist die Elektromobilität. Rund 20 Prozent der in Deutschland neu zugelassenen Autos sind reine E-Fahrzeuge - mit völlig anderen Komponenten. Viele klassische Bauteile entfallen. Zulieferer müssen entscheiden, wann sie umschwenken. Ein Problem ist, dass die Aufträge der Autobauer meist an Modellreihen gebunden sind, die über Jahre laufen. Neue Autos haben Zyklen von sieben Jahren, beispielsweise von 2028 bis 2035. Dafür wird ein Masterauftrag vergeben, der besagt, dass bestimmte Teile für dieses Auto im Umfang der tatsächlichen Abrufzahlen geliefert werden müssen. Das bedeutet auch, dass der Zulieferer einen Teil des Risikos trägt. Viele haben auf E-Teile gesetzt und geraten jetzt in Schwierigkeiten, weil der Markt langsamer wächst als gedacht.
Bosch, der größte Autozulieferer der Welt, streicht bis 2030 ein Drittel seiner Stellen. Was lehrt uns das?
Bosch war lange erfolgreich, aber auch Opfer des eigenen Erfolgs. Man war stark bei Premiumherstellern. Heute liefern auch chinesische Anbieter solide Qualität zu niedrigeren Preisen. Bosch bleibt innovativ, hat aber in manchen Bereichen seine Alleinstellung verloren. Nicht, weil Bosch versagt hätte, sondern weil andere besser geworden und für die Industrie heute gut genug sind. Ein Produkt muss nicht immer das beste sein.
Welche Unternehmen haben denn überhaupt eine Chance, in der neuen Autowelt relevant zu bleiben?
Die Zulieferer müssen dorthin, wo die Autohersteller sind. Große Player machen das längst und beliefern auch chinesische Produzenten. Entwicklung und Produktion müssen dort stattfinden, wo die Nachfrage ist - nicht mehr in Stuttgart oder München. Dabei muss die Entwicklung allerdings auch an die örtlichen Gegebenheiten angepasst werden. Bosch wird es weiterhin geben, aber die Jobs entstehen künftig in Ungarn, Shanghai oder Wuhan. Das ist Teil des Anpassungsprozesses.
Die deutschen Arbeitsplätze sind für immer verloren?
In vielen Bereichen ja. Man kann vielleicht noch einige retten, wenn man Innovationshürden abbaut, weniger reguliert und Wettbewerb fördert. Subventionierte Industriearbeitsplätze würden aber nur den notwendigen Anpassungsprozess verzögern.
Wie ist Innovation in Deutschland denn überhaupt möglich, wenn Firmen abwandern und Investitionen entweder auf Eis gelegt oder ins Ausland verlagert werden?
Die Autoindustrie bleibt attraktiv für Nachwuchskräfte. Innovation entsteht dort, wo kluge Köpfe Freiraum haben. Wir haben zudem ein wachsendes Startup-Ökosystem rund um die Elektromobilität. Entscheidend ist, Bürokratie abzubauen und Unternehmen zu unterstützen, damit hierzulande etwas Neues entsteht. Aber dafür müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Da könnte der Staat tatsächlich etwas tun.
Heute ist Autogipfel. Wäre eine Rolle rückwärts beim Verbrenner hilfreich?
Nein. Ein starres Enddatum für den Verbrenner war ein grober Fehler. Die Politik glaubte, es besser zu wissen als der Markt - das hat Tausende Jobs gekostet. Ich sehe die Gefahr, dass es beim Autogipfel jetzt auf die falsche Sache hinausläuft, denn die Anpassungseffekte sind ja bereits vorhanden. Der Weg zur Elektromobilität ist vorgezeichnet, man muss ihn nur mit Augenmaß gestalten: Ladeinfrastruktur aufbauen, steuerliche Anreize setzen - und den Rest dem Markt überlassen. Was wir brauchen, ist ein geregelter Übergang. Der Anpassungsprozess muss erleichtert werden.
Was wäre dadurch gewonnen, wenn der Druck doch für Tempo bei der E-Mobilität gesorgt hat?
Die Chinesen sitzen auf den Rohstoffen und kontrollieren die Batteriefertigung. Das wird für immer unser Makel sein. Allein deswegen lohnt sich eine längere Anpassungszeit. Es ist uns in Europa einfach nicht gelungen, Batteriezellen zu fertigen. Wir haben es mit Northvolt versucht, aber das Unternehmen ist pleitegegangen. Wir haben es auch mit Varta und anderen versucht. Aber wir hatten keine Zeit, uns neu zu erfinden. Das hat zur Folge, dass die Batterie, die immer noch aus Asien kommt, den größten Kostenblock in einem Elektroauto darstellt. Die Chinesen werden den Markt für Elektrofahrzeuge aufrollen.
Und das ganz ohne Verbrenner-Aus …
Richtig. In China gibt es kein Verbrenner-Aus. Im Gegenteil: Das Thema Hybrid wird dort sogar noch einmal anders gedacht. Es gibt Elektroautos, in denen zusätzlich ein kleiner Verbrennungsmotor mitläuft. Damit gibt es keine Reichweitenangst. Diese Fahrzeuge werden Extended Range Electric Vehicles genannt, aber diese Technologie wird in der deutschen Debatte überhaupt nicht berücksichtigt, obwohl wir sie haben. Aber weil sich die Politik überall einmischt, hat sie im Moment keinen Platz am Markt. Die EU hat den Markt bei der Regulierung rund ums Auto in den letzten Jahren kaputtreguliert. Eigentlich müsste man alle Regelungen aufweichen und noch einmal von Grund auf prüfen, was wirklich sinnvoll ist.
Braucht die Autoindustrie ein Rettungspaket?
Nein. Staatliches Geld wäre das falsche Signal. Stattdessen braucht es stabile Rahmenbedingungen für Innovation und klare, verlässliche Regeln - keine politischen Zickzack-Kurse, wie bei dem Hin und Her bei den Steuererleichterungen.
Mit Thomas R. Köhler sprach Diana Dittmer
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke