Statt an echten Reformen der Rente und Pflege, doktert die Politik an Mini-Updates des Sozialstaats herum, findet der Capital-Chefredakteur Timo Pache. Wie der Aufschwung gelingt.

Ich melde mich zurück aus den Sommerferien – und ich hoffe, dass Sie einen schönen, ruhigen und erholsamen August genießen konnten. Am besten weit weg von politischen Diskussionen, die in den vergangenen Wochen schon wieder eine beunruhigende und beklemmende Dynamik entwickelt haben.   

Bevor ich darauf komme, will ich von einem kleinen Schreckensmoment berichten, mit dem mein Urlaub endete: Kaum zuhause angekommen, meldete mein iPhone, dass es sich jetzt selbst ausschalte. Es müsse ein Update installieren, konnte ich gerade noch lesen, bevor das Display schwarz wurde.  

Nervös machte mich die Sache, weil ich vor einigen Monaten eine neue Sim-Karte erhalten hatte und ich mir immer noch nicht die neue Geheimzahl gemerkt habe – klar, mein Fehler. Ich sah mich schon am Wochenende vorzeitig ins Büro zurückkehren, um in allen möglichen Schränken und Schubladen verzweifelt nach dem Zettel mit der Pin für die Karte zu wühlen. Zu meiner eigenen Überraschung durfte ich aber wenige Minuten später feststellen, dass so ein Update gar nicht so ein gravierender Eingriff ist. Das Handy startete von selbst neu und verlangte gar keine Pin, um die Karte zu entsperren. Alles funktionierte danach wie gehabt.

Markus Söders "Update"

An diese Episode musste ich denken, als zu Beginn dieser Woche – und nun komme ich auf die Lage der Berliner Koalition – Bayerns Ministerpräsident Markus Söder in einem Zeitungsinterview ein "grundsätzliches Update" unseres Sozialstaats verlangte – eine Formulierung, die die ganze Widersprüchlichkeit und Ziellosigkeit unserer aktuellen Standort- und Reformdebatte in zwei Worte fasst: Einerseits soll sich im deutschen Sozialstaat vieles, am besten alles ändern, wenn man Söder oder auch Kanzler Friedrich Merz zuletzt zuhörte. Die Reformen im "Herbst der Reformen" (auch so eine vieldeutige Formulierung) sollten groß und eben grundsätzlich werden. Doch das Wörtchen "Update" wiederum signalisiert allen Sozialstaats-Usern: keine Bange, ist nix Großes, danach läuft alles wieder wie gehabt.  

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So erklärt sich auch die beeindruckende Metamorphose des Kanzlers von Montag bis Mittwoch, also in gerade mal etwas mehr als 48 Stunden: Verkündete er zum Wochenstart noch ehrgeizig, das Lande lebe "seit Jahren" über seine Verhältnisse und könne sich den heutigen Sozialstaat "nicht mehr leisten", so klang er am Mittwochabend schließlich so: "Wir sind uns einig, dass wir den Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland erhalten wollen. Wir wollen ihn nicht schleifen, wir wollen ihn nicht abschaffen, wir wollen ihn nicht kürzen, sondern wir wollen ihn in seinen wichtigsten Funktionen erhalten, das heißt, wir müssen ihn reformieren." Alles klar, oder?  

Wer sich nach Wochen des Streits und der verbalen Entgleisungen in diesem Sommer vom Treffen der Partei- und Fraktionschefs am Mittwoch ein wenig Klarheit über die kommende Agenda dieser immer noch jungen Koalition erhofft hatte, wurde enttäuscht. Zwischen erhalten und ein bisschen reformieren, hie und da eine kleinere Veränderung, ist in den kommenden Monaten vieles möglich – nur keine wirklich großen und grundsätzlichen Reformen. Ein Update eben, mehr nicht. Der schlaue Markus Söder hatte seine Worte offenbar sorgsam gewählt. 

Rente, Bürgergeld, Krankenkassen: überall hohe Kosten

Dabei zeichnet sich klar ab, dass ein Update des Sozialsystems kaum reichen wird. Erstmals seit mehr als zehn Jahren sind in Deutschland wieder mehr als drei Millionen Menschen offiziell arbeitslos und suchen eine Stelle. Hinzu kommen weit mehr als fünf Millionen Menschen, die ganz oder teilweise auf staatliche Unterstützung aus dem Bürgergeld-System angewiesen sind. Sicher, darunter sind viele Kinder und deren alleinerziehende Mütter, auch viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Dennoch sind etwa fünfeinhalb Millionen Bürgergeld-Empfänger – völlig unabhängig von den damit verbundenen Kosten – eine erschreckend hohe Zahl.  

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Noch viel größer und dringender ist jedoch der Handlungsbedarf in den übrigen Sozialsystemen: Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen stiegen im ersten Halbjahr 2025 insgesamt um knapp acht Prozent, für Krankenhausbehandlungen gar um fast zehn Prozent. Kein Gesundheitssystem der Welt kann solche Ausgabenzuwächse auf Dauer verkraften. Ohne eine schnelle und – da ist es wieder, das Wort – grundsätzliche Reform im Gesundheitssystem werden die Krankenkassenbeiträge in wenigen Monaten erneut kräftig steigen. Ähnlich sieht es in der gesetzlichen Pflegeversicherung aus. Allein durch die absehbaren Zuwächse in der Kranken- und Pflegeversicherung wird die Summe der Sozialbeiträge zum Jahreswechsel 2025/2026 wahrscheinlich die Grenze von 43 Prozent der Löhne und Gehälter deutlich überspringen. Das gab es noch nie.

Boomer: ab in den Ruhestand

Den größten Reformdruck gibt es freilich in der gesetzlichen Rente, wo nicht zuletzt diese große Koalition, kaum im Amt und natürlich auch jetzt wieder im Namen der Gerechtigkeit, mit zusätzlichen Ausgaben die Finanzlage noch einmal verschärft hat. Praktisch alle richtigen Rentenreformen von vor 20 Jahren wurden inzwischen zurückgedreht oder ausgehebelt. Nur, dass jetzt nicht mehr 20 Jahre bleiben, bis sich die große Generation der Babyboomer in den verdienten Ruhestand verabschiedet, sondern mehr oder weniger: null. Was sich Union und SPD bisher für eine bessere Altersvorsorge vorgenommen haben – die sogenannte Aktiv-Rente und die neuen Zuschüsse für Kinder-Spardepots – sind zumindest teilweise sinnvoll. Aber sie reichen bei weitem nicht aus, um die Finanzen des Rentensystems über die nächste Wahl hinaus zu sichern.  

Das also sind die Aufgaben dieser Koalition für den von Merz selbst ausgerufenen "Herbst der Reformen". Doch was machen Union und SPD? Sie kaprizieren sich auf das Bürgergeld und verstricken sich in Neid- und Symboldebatten. Ja, das Bürgergeld muss reformiert werden – aber Eckpunkte bis zum Jahresende? Um dann irgendwann im Jahr 2026 einen Gesetzentwurf für eine Reform vorzulegen? Und ansonsten nur ein paar Kommissionen, die bitte Vorschläge für Reformen in der Kranken-, Renten-, und Pflegeversicherung liefern sollen. Das ist kein Herbst der Reformen, sondern bestenfalls ein vorgezogener, schon etwas angegilbter Altweibersommer, auf den dann ein weiterer trister Winter folgen wird. Aber es ist mitnichten das Aufbruchsignal, auf das so viele Unternehmen und Menschen in Deutschland so dringend warten.  

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Der große Aufschwung, die Rückkehr zu Wachstum und wirtschaftlicher Dynamik wird mit dieser Agenda der Koalition ausfallen. Die ersten Wirtschaftsinstitute schrauben ihre optimistischen Prognosen aus dem Frühjahr schon wieder zurück, bestenfalls wird die Wirtschaft dieses Jahr stagnieren. Aber auch eine weitere leichte Rezession ist nicht ausgeschlossen. Und auch der Aufschwung im nächsten Jahr könnte, trotz der vielen zusätzlichen Milliarden für Investitionen, Infrastruktur und Aufrüstung, deutlich schwächer ausfallen als noch vor Wochen gedacht. Die Nervosität der internationalen Investoren ob der allerorten steigenden Staatsverschuldung, die sich in dieser Woche vor allem am Markt für Staatsanleihen gezeigt hat, kommt nicht von ungefähr.  

Friedrich Merz und seine Minister wähnen sich erst kurz im Amt, gerade mal vier Monate sind es nun, sie bitten um Nachsicht und Geduld. Doch das Land steht kognitiv und emotional ganz woanders: Mit dem Ausbruch der Pandemie und dem Angriff Russlands auf die Ukraine waren die Jahre 2020 und 2022 Ausnahmejahre, doch alles andere seither und zwischendurch war wirtschaftlich und politisch eine verlorene Zeit. Da mögen die Regierungschefs noch Merkel und Scholz geheißen haben, die Probleme und auch die Lösungsmöglichkeiten waren und sind bis heute stets die immer gleichen geblieben. Diese Koalition muss dramatisch an Tempo und Ehrgeiz zulegen, wenn sie die Stimmung im Land drehen will. Leider scheinen Merz und seine Kollegen das noch nicht verstanden zu haben. 

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