Pünktlichkeit von 99 Prozent – Was die Deutsche Bahn vom Vorbild Schweiz lernen kann
Eine Bahnfahrt in Deutschland gleicht einer Lotterie. Züge fallen aus, weil Lokführer fehlen. Sie bleiben stehen, weil das Personal die Arbeitszeit überschritten hat. Und sie kommen nicht an, da ein verspäteter Zug das Gleis blockiert – oder sie dürfen nicht weiterfahren, weil zu viele Passagiere an Bord sind, deren Zug zuvor gestrichen wurde. Dazu kommen Signal- und Weichenstörungen, Stellwerksausfälle, fehlender Ersatz für krankes Personal.
Und das in Deutschland, dem Land der Ingenieure. Zuletzt wurde bekannt, dass Richard Lutz, der Chef der Deutschen Bahn, vorzeitig gehen muss. Wie kam es so weit? Antworten auf die wichtigsten Fragen mit dem Verkehrsexperten Peter Füglistaler. Der 66‑Jährige leitete 14 Jahre lang das Schweizer Bundesamt für Verkehr. Mit seiner Firma Public Transport Solutions hat er ein Beratungsmandat für das deutsche Verkehrsministerium.
1. Wie unpünktlich ist die Deutsche Bahn?
Nicht alles war früher besser – die Deutsche Bahn schon. 2004 erreichten laut eigenen Angaben noch 84,3 Prozent der Fernzüge (ICE und IC) pünktlich ihr Ziel. Im vergangenen Jahr waren es nur noch 62,5 Prozent der Züge. Der Wert ist damit noch schlechter als 2023 (64 Prozent) und 2022 (65,2 Prozent). Geradezu verheerend ist die jüngste Statistik der Deutschen Bahn: Im Juli dieses Jahres sank die Pünktlichkeitsquote auf 56,1 Prozent – fast sechs Prozentpunkte weniger als im Juli 2024. Ein internationaler Vergleich ist schwierig, da jedes Land Pünktlichkeit anders definiert.
In der Schweiz gilt ein Zug als pünktlich, wenn er weniger als drei Minuten Verspätung hat. In Deutschland liegt die Grenze bei sechs Minuten, in Frankreich und Italien bei fünf Minuten. Unabhängige Portale wie Zugfinder.net schaffen jedoch Klarheit. Für die Website „Reisereporter“ hat das Portal die Pünktlichkeit ausgewählter europäischer Bahnen nach demselben Maßstab verglichen. Im internationalen Vergleich landet Deutschland damit auf dem letzten Platz. Spitzenreiterin ist die Schweiz: 99 Prozent der Züge hatten weniger als sechs Minuten Verspätung. Selbst mit der strengeren Dreiminutenregel der SBB liegt der Wert nach eigenen Angaben noch bei 93,2 Prozent.
2. Wieso sind so viele Züge unpünktlich?
Die Deutsche Bahn kennt ihre Probleme: „Das Netz ist zu voll, zu alt und zu kaputt“, sagte ihr Infrastrukturchef Berthold Huber. Nach der Wiedervereinigung sei viel Geld in Ost-West-Verbindungen geflossen, doch das bestehende Netz sei vernachlässigt worden, sagt Peter Füglistaler. Zudem fehlten Züge. „Ein stabiles System braucht Reserven“, so Füglistaler. Ersatzzüge in großen Bahnhöfen könnten Ausfälle kompensieren – in Deutschland fehlten sie. Der Schweizer Experte sieht die Deutsche Bahn „gefangen in einem Teufelskreis“.
Ein pünktliches System funktioniere reibungslos, weil Züge, Lokführer und Personal am richtigen Ort seien. Bei Verspätungen hingegen gerate alles durcheinander, das Personal müsse improvisieren. Auch könne man in der Schweiz verspätete Züge ausfallen lassen, weil der Takt eng sei. In Deutschland führe ein Ausfall oft zu stundenlangen Verspätungen. Ein Taktfahrplan, also ein Fahrplan, bei dem die Züge in den immer gleichen Zeitabständen verkehren, ist in Deutschland erst ein Fernziel.
3. Welche Fehler hat die deutsche Politik begangen?
1994 entstand aus der westdeutschen Bundesbahn und der ostdeutschen Reichsbahn die privatrechtlich organisierte Deutsche Bahn. Sie gehört weiterhin dem Staat, ist aber als Aktiengesellschaft strukturiert. Seit der Bahnreform verfolgt die Deutsche Bahn wirtschaftliche Ziele: Umsatz steigern, Gewinne erzielen. Die Politik glaubte damals, die Bahn könne profitabel werden und an die Börse gehen. „Ein fataler Irrtum“, sagt Peter Füglistaler. Keine Bahn in Europa überlebt ohne staatliche Unterstützung. In Deutschland fließen zwar staatliche Zuschüsse, doch die Bahn muss vieles selbst finanzieren.
„Deshalb haben Manager in der Vergangenheit die Kosten gesenkt – zulasten der Infrastruktur“, erklärt Füglistaler. Weniger Weichen und Stellwerke wurden erneuert, die Anlagen verfielen. Das rächt sich: Fällt eine Anlage aus, kommt es sofort zu Störungen. Inzwischen reichen bei der Deutschen Bahn kleine Reparaturen nicht mehr. Füglistaler sieht auch ein Problem in den unterschiedlichen Planungszeiträumen: Manager der Privatwirtschaft denken in wenigen Jahren, ein Bahnunternehmen muss viel weiter vorausblicken. „Neue Züge werden für 25 bis 40 Jahre angeschafft, Großprojekte wie der Gotthardtunnel auf 100 Jahre ausgelegt“, sagt er.
4. Was unterscheidet die Organisation der Deutschen Bahn von den SBB?
In der Schweiz legen Bund und SBB in Leistungsvereinbarungen je für vier Jahre fest, wo und wie viel investiert wird. In Deutschland entscheidet die Bahn selbst, welche Projekte sie umsetzt, da sie einen Großteil der Investitionen selbst finanzieren muss. Welchen Anteil der Kosten die Bahn übernehmen muss, hat in der Vergangenheit schon zu langwierigen Rechtsstreitigkeiten geführt, etwa beim Bau des Bahnhofs Stuttgart 21. Ein Gericht entschied, dass die Deutsche Bahn allein für das Megaprojekt zahlen musste.
In der Schweiz sind solche Streitigkeiten ausgeschlossen, da der Staat alles bezahlt – auch bei Megaprojekten wie der Neat oder Bahn 2000. „Der Service public ist in der Schweiz tief verankert“, sagt Füglistaler. Diese Orientierung am Gemeinwohl entwickle sich in Deutschland erst langsam. Auch habe es in Deutschland immer wieder Machtkämpfe zwischen dem CEO der Deutschen Bahn und dem Verkehrsminister gegeben. In der Schweiz sei das undenkbar. „Der CEO der SBB kann sich nicht gegen einen Bundesrat stellen. Es ist völlig klar, dass er diesen Machtkampf verlieren würde“, sagt Füglistaler.
5. Hat die Krise Auswirkungen auf den Schweizer Bahnverkehr?
Ja. Kommen Züge aus Deutschland mit mehr als 10 bis 15 Minuten Verspätung in Basel an, verweigern die SBB ihnen die Einreise. Auch auf der Strecke von Stuttgart nach Zürich ersetzen die SBB verspätete Fernzüge ab Schaffhausen durch Ersatzzüge. Die Passagiere müssen dann ungeplant umsteigen. Mit dem Zugstopp soll verhindert werden, dass der Fahrplan durcheinandergerät. Laut einer Sprecherin betrifft das 20 bis 30 Prozent der aus Deutschland kommenden Züge. Unangenehm wird es bald für Schweizerinnen und Schweizer, die nach Stuttgart reisen. Wegen einer Planungspanne endet die Zugfahrt ab Mitte 2026 bis voraussichtlich 2032 im Vorstadtbahnhof Stuttgart-Vaihingen. Von dort müssen die Reisenden mit der S‑Bahn ins Zentrum fahren.
6. Gibt es auch einen Grund zu Optimismus?
Die neue Regierung unter Friedrich Merz hat sich stark verschuldet, um in Verteidigung und Infrastruktur zu investieren. Auch die Deutsche Bahn soll vom Infrastrukturfonds profitieren. Bis 2029 plant die Regierung, 107 Milliarden Euro in das Schienennetz zu stecken. Ursprünglich sollten bis 2031 die 42 meistbefahrenen Strecken saniert werden – mit monatelangen Vollsperrungen.
Doch der ehrgeizige Plan geriet ins Stocken: Die Projekte sind teurer als erwartet, der Zeitplan wurde auf 2035 verschoben. Trotzdem sieht Peter Füglistaler die Investitionen positiv. Er wird von seinen deutschen Kollegen oft nach dem Erfolgsgeheimnis der SBB gefragt. Seine Antwort: „Geld, Geld und nochmals Geld.“ Eine gute Bahn koste viel, der Staat müsse investieren. Nach Angaben des deutschen Interessenverbands Allianz Pro Schiene hat Deutschland 2004 198 Euro pro Kopf in die Bahn investiert, die Schweiz 480 Euro.
Auch politisch tut sich etwas. Der neue deutsche Verkehrsminister Patrick Schnieder läßt eine neue Eigentümerstrategie entwickeln und hat den bisherigen Deutsche‑Bahn‑Chef Richard Lutz entlassen. Für Füglistaler sind das deutliche Signale, dass die Politik die Deutsche Bahn stärker lenken will – ähnlich wie das Bundesamt für Verkehr die SBB. Für ihn ist das der richtige Weg: „Die Deutsche Bahn muss schweizerischer werden.“
7. Ab wann verbessert sich die Lage bei der Deutschen Bahn?
Der frühere Finanzminister Christian Lindner versprach dieser Redaktion im vergangenen Jahr Verbesserungen „ab der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts“. Anderthalb Jahre später fließt nun deutlich mehr Geld als ursprünglich geplant. Dennoch mahnt Peter Füglistaler zur Geduld. „Im besten Fall dauert es noch fünf Jahre, bis sich die Lage bei der Deutschen Bahn bessert. Realistisch sind eher zehn Jahre“, sagt er.
Ein Bahnsystem lasse sich nur langsam verbessern, Rückschläge seien unvermeidlich. „Doch sobald es aufwärts geht, entsteht ein stabiler Trend“, erklärt Füglistaler. Werden die Züge pünktlicher, stabilisiert sich das System von selbst. Die Deutsche Bahn werde nicht plötzlich 95 Prozent Pünktlichkeit erreichen, doch langfristig, so Füglistaler, müsse genau dies das Ziel sein.
Dieser Text erschien zuerst beim Schweizer „Tagesanzeiger“, wie WELT Mitglied der Leading European Newspaper Alliance (LENA).
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