Rasante Modernisierung - aber nicht für alle
Indien wendet gewaltige Summen auf, um das Land zu modernisieren. Milliarden werden in die Infrastruktur gesteckt. Doch regionale Unterschiede bleiben, und der Boom kommt längst nicht bei jedem an.
Chennai ist Indiens drittgrößte Stadt und berüchtigt für das Verkehrschaos. Mehr als 500.000 Menschen sind hier jeden Tag auf Straße und Schiene unterwegs. Es ist der wichtigste Knotenpunkt im Süden des Landes. Im Stadtzentrum sind die Straßen zwar immer noch verstopft, aber zumindest bei Fernreisen geht es mittlerweile etwas schneller. Dank der neuen Expresszüge.
Der 500-Kilometer-Trip in die zweitgrößte Stadt des Bundesstaats Tamil Nadu, Coimbatore, dauert mittlerweile nur noch sechs Stunden, früher waren es fast zehn Stunden. Bequeme Sitzplätze gibt es für umgerechnet 14 Euro. Wer sich unter den Reisenden umhört, kriegt enthusiastisches Feedback. Vor allem die Hygiene der blitzsauberen Züge wird gelobt.
Gebaut werden sie in Chennai, im größten Eisenbahnwagenwerk der Welt. Die Werkshallen sind einen halben Kilometer lang. 8.000 Mitarbeiter bauen hier einfache Waggons bis gehobene klimatisierte Abteile für die Schnellzüge.
Die Nachfrage ist enorm. Denn in ganz Indien fahren täglich bis zu 24 Millionen Passagiere mit der Bahn. Das Schienennetz ist mit 68.000 Kilometern Länge eines der größten weltweit; fast die Hälfte der Schienen wurde erst in den vergangenen Jahren gebaut.
Auch bei den Bahnhöfen wird kräftig aufgerüstet. Ungefähr jede fünfte der mehr als 7.000 Stationen ist runderneuert.

Indien baut auch seine Schnellzugverbindungen aus - der Vande-Bharat-Zug fährt seit diesem Sommer erstmals auch in den von Indien kontrollierten Teil von Kaschmir.
Zahl der Flughäfen verdoppelt
Indien befindet sich im Modernisierungsfieber. Das kostet natürlich. Für die Verbesserung der Infrastruktur wurden allein in den vergangenen zwei Jahren 111 Milliarden Euro investiert. Die Zahl der Flughäfen hat sich seit 2014 auf mehr als 160 verdoppelt.
Vor den Toren Neu-Delhis entsteht gerade ein neuer Hauptstadtflughafen, angeblich der größte in ganz Asien. Schon in diesem Herbst soll er eröffnet werden. Die indischen Fluggesellschaften bestellen Maschinen im großen Stil: In den kommenden Jahren sollen 2.800 neue Flugzeuge für den indischen Markt gebaut werden.
Bürokratie und regionale Unterschiede bleiben
Vom Infrastrukturboom profitieren auch deutsche Unternehmen. Der baden-württembergische Tunnelbauer Herrenknecht produziert Bohrer für Straßentunnel, die Indien für den Ausbau seines Straßennetzes benötigt. Seit zwei Jahrzehnten ist die Firma in Indien engagiert; das zahlt sich jetzt aus.
"Die Vorbereitung, die wir vor 20 Jahren getroffen haben, nimmt jetzt gerade an Fahrt auf", schwärmt Vorstandsmitglied Martin-David Herrenknecht. Das Unternehmen sei "überall unterwegs, wo Städte gebaut werden, wo Infrastruktur gebaut wird, und da ist es nur natürlich, dass wir dann auch in Indien sind".
Allerdings kennt der Unternehmer auch die Tücken des Indiengeschäfts. Die regionalen Unterschiede im Land sind groß, die bürokratischen Hürden ebenfalls. "Einfach mal anfangen und zu glauben, es wird schon gut gehen, funktioniert so gut wie nie."

Auch rund um die Hauptstadt Neu-Delhi werden die Eisenbahnstrecken ausgebaut.
Starkes Wirtschaftswachstum
Das Land kann sich seine Infrastrukturinvestitionen leisten, weil die Wirtschaft wächst - im vergangenen Jahr um 6,3 Prozent. Es sind vor allem bestimmte Wirtschaftszweige, die boomen: etwa die Pharma-Industrie, hier vor allem das Geschäft mit Nachahmer-Medikamenten, sogenannten Generika.
Aber auch der Hightech-Sektor wächst. Alleine im IT-Bereich arbeiten fünf Millionen Menschen in rund 35.000 Firmen, viele davon sind Start-ups.
Dennoch gibt es Experten, die vor einem Hype warnen. Denn vom Wirtschaftswachstum profitiert bisher nur die Ober- und Mittelschicht. Die Schere zu den Armen geht immer weiter auf. Die Zahl der Milliardäre liegt bei fast 300. Ein Prozent der Inder besitzt 40 Prozent des Reichtums.
Viel Energie aus Kohle - mit Folgen
Die Schattenseiten des Fortschritts sind nicht nur in den Slums der Metropolen, sondern auch auf dem Land zu sehen. Dort lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Zum Beispiel im Süden von Uttar Pradesh, mit 240 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste Bundesstaat. Die Gegend gilt als Energiezentrum Indiens.
Man sieht überall Kohlekraftwerke, die täglich Hunderte von Tonnen Kohle verbrennen. Die Schornsteine stoßen große Mengen an Fluoriden aus. Über das Grundwasser gelangen sie ins Trinkwasser und landen so in den Brunnen der Dörfer ringsum.
Die Giftstoffe verursachen Skelettfluorose, eine krankhafte Veränderung der Knochen. Wer älter als 50 Jahre ist, leidet in der Regel an starken Knochenschmerzen. Aber kaum jemand kann sich eine Operation leisten.
Fast alle Leute hier würden die Gegend liebend gerne verlassen, aber dafür fehlt das Geld. Stattdessen versuchen sie, mit verbesserten Trinkwasserkontrollen zu überleben. Immerhin hat die Regierung vor einigen Jahren einen Wasserfilter installiert - aber nicht für regelmäßige Wartungen gesorgt.
Arvind Kumar, einer der vielen Fluorose-Erkrankten, beklagt sich: "Seit zwei Jahren beschwere ich mich bei der Regierung, damit sie den Filter reparieren und wir fluoridfreies Wasser bekommen."
Aus der Region geht viel Energie für den wirtschaftlichen Aufschwung ins Land und es kommt nichts zurück. Den gesundheitlichen Preis zahlen die Menschen, die hier leben müssen.
Wirtschaftswunder nur, wenn alle mitkommen
Menschen wie Arvind fühlen sich abgehängt und vergessen. Zwar hat sich laut einer Analyse der Weltbank die Lage der Armen in den vergangenen Jahren leicht verbessert: In extremer Armut, also von weniger als drei Dollar am Tag, lebten bei der letzten Berechnung 2022/23 etwa 75 Millionen Inder - gegenüber 344 Millionen 2011/12.
Allerdings liegt das Durchschnittseinkommen im Land nach wie vor nur bei etwas über 300 Dollar im Monat: zu wenig, um sich etwa regelmäßig ein Schnellzug-Ticket leisten zu können, ganz zu schweigen von einem Pkw.
Indien will mit großem Tempo vorankommen und weiter wirtschaftlich schnell wachsen. Der moderne Teil des Landes profitiert davon enorm. Aber wenn der abgehängte Teil der Bevölkerung nicht mitgenommen wird, dann, sagen kritische Ökonomen, wird es langfristig kein indisches Wirtschaftswunder geben.
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