„Die Modernisierung der Seehäfen wurde viele Jahre lang sträflich vernachlässigt“
Durch Europas Konfrontation mit Russland rücken auch die deutschen Seehäfen wieder in den Fokus – als Drehscheiben für eine sichere Versorgung des Kontinents und für einen möglichen militärischen Aufmarsch der Nato. Ganz unabhängig davon müssen enorme Summen in die Kaikanten, Flächen und Inlandsanbindungen der Häfen investiert werden, um sie als Grundlage des deutschen Außenhandels arbeitsfähig zu halten und um die Energiewende voranzutreiben, etwa beim Ausbau der Offshore-Windkraft. Angela Titzrath, 59, die Präsidentin des Zentralverbandes der deutschen Seehafenbetriebe (ZDS) mit Sitz in Hamburg und Berlin, sagte WELT AM SONNTAG, wie die Branche die notwendigen Mittel vor allem des Bundes aufbringen will. Im Hauptberuf ist Titzrath Vorstandsvorsitzende des Hamburger Hafenlogistikkonzerns HHLA, den sie im Laufe des Jahres allerdings verlassen wird.
WELT AM SONNTAG: Frau Titzrath, viele Jahre lang hat sich bei der Finanzierung der Seehäfen durch den Bund nichts bewegt, über die jährlichen 38 Millionen Euro hinaus. Die Infrastruktur verfällt. Nun soll die maritime Wirtschaft einmalig insgesamt 400 Millionen Euro bekommen. Wie ordnen Sie das ein?
Angela Titzrath: Wir begrüßen die 400 Millionen Euro aus dem Klima- und Transformationsfonds für die maritime Wirtschaft in den Jahren 2026 bis 2029 ausdrücklich. Der Bund sieht dafür drei Adressaten vor: die Seehäfen, die Binnenhäfen und die Schifffahrt. See- und auch Binnenhäfen brauchen dringend ein stärkeres Engagement des Bundes. Die Häfen spielen eine zentrale Rolle bei der Wahrnehmung gesamtstaatlicher Aufgabe, von der Energieversorgung über den Warenverkehr bis zur Verteidigung. Die fünf Küstenländer können die damit verbunden Herausforderungen nicht allein bewältigen. Allerdings arbeiten die Küstenländer mittlerweile viel enger und besser zusammen als früher. Sie ziehen an einem Strang, um den Bund in die Verantwortung für die dringend nötige Modernisierung der Häfen zu nehmen.
WAMS: Wie hoch ist der Gesamt-Finanzbedarf für die Sanierung und den Ausbau der öffentlichen Hafeninfrastruktur in den deutschen Seehäfen?
Titzrath: Der Bedarf umfasst rund 15 Milliarden Euro, das haben wir beim ZDS zusammen mit unseren Mitgliedern detailliert ermittelt. Dabei geht es um marode Kaimauern und fehlende Schwerlastflächen bis hin zu mangelhaften Anbindungen an das Hinterland. Diese Defizite schaden der Wirtschaft und belasten den Hafenbetrieb. Die 15 Milliarden Euro entsprechen gerade einmal drei Prozent des Sondervermögens Infrastruktur. Damit könnten wir alle dringend nötigen Modernisierungen innerhalb von zwölf Jahren vollständig und nachhaltig durchführen. Mit einer Aufstockung des jährlichen Hafenlastenausgleichs von derzeit jährlich 38 Millionen auf 400 – besser noch: 500 Millionen – Euro würde sichergestellt, dass sich die Versäumnisse der Vergangenheit nicht wiederholen. Die Situation der Seehäfen erinnert mich bisweilen an die der Bundeswehr: Ihre Modernisierung und Erweiterung wurde viele Jahre lang sträflich vernachlässigt.
WAMS: Aus welchen Ministerien und Einzelhaushalten würde die Investition dieser 15 Milliarden Euro gesteuert, sollte sich der Bund tatsächlich zu solch einer Größenordnung verpflichten?
Titzrath: Der Betrag kann auf verschiedene Ressorts verteilt werden – er muss nicht vollständig aus dem Sondervermögen für die Infrastruktur kommen. Auch der Verteidigungshaushalt, der Klimafonds des Bundeswirtschaftsministeriums oder Mittel des Verkehrsressorts bieten sich an. Nehmen wir das Stichwort „dual use“: Die Modernisierung zum Beispiel einer Brücke dient sowohl dem Schwerlasttransport, etwa für einen 100-Tonnen-Transformator, als auch der Verlegung von Bundeswehr- oder Nato-Material.
WAMS: In welchen Größenordnungen müssten diese Beträge aufgeteilt und investiert werden?
Titzrath: Dazu haben wir konkrete Vorschläge erarbeitet, die wir mit der Bundesregierung diskutieren wollen. In der Politik und in der Gesellschaft muss aber zunächst einmal der Bedarf anerkannt werden: für sichere Export- und Importwege, für die Versorgungssicherheit auch in einer künftigen Energiewirtschaft und für die Verteidigung Deutschlands und Europas. Deutschland ist aufgrund seiner geografischen Lage ein zentraler Aufmarschstandort in möglichen Konflikten – ein Szenario, das niemand erleben möchte, worauf wir uns aber vorbereiten müssen. Alles andere wäre unverantwortlich. Dazu gehören Investitionen in den Schutz der Hafenanlagen, etwa gegen Cyberangriffe. Wir können dem Bundesverteidigungsminister sofort eine Übersicht vorlegen, welche Maßnahmen in den Seehäfen erforderlich sind. Die „Zeitenwende“ ist mehr als militärische Rüstung. Auch die Seehäfen sind ein integraler Teil der „Zeitwende“. Ohne funktionierende Infrastruktur gibt es keine wehrfähige Bundeswehr.
WAMS: Ist die neue Bundesregierung aus Union und SPD offener für maritime Themen als die Ampelkoalition zuvor? In der Ampelregierung saßen zwar einige Spitzenpolitiker von der Küste wie Bundeskanzler Olaf Scholz oder Wirtschaftsminister Robert Habeck. Für die Seehäfen hat sich in deren Regierungszeit von Ende 2021 bis Anfang 2025 dennoch wenig Konkretes getan.
Titzrath: Die deutschen Seehäfen sind systemrelevant für die gesamte Republik – für Wirtschaft, Verteidigung, Energiewende und Klimaschutz. Allerdings gibt es nach den ersten Haushaltsrunden der neuen Bundesregierung noch keine Entwarnung: Weder wurde der Hafenlastenausgleich erhöht, noch gibt es einen Etat für die Seehäfen im Sondervermögen Infrastruktur. Immerhin hat die neue Bundesregierung mit ihren Maßnahmen die Zeichen der Zeit erkannt. Die Nationale Hafenstrategie von 2024 enthält viele wichtige Ansätze, nun gilt es, den Worten Taten folgen zu lassen.
WAMS: Wie finden Sie die Bestellung des Hamburger CDU-Politikers Christoph Ploß zum neuen Maritimen Koordinator der Bundesregierung?
Titzrath: Wir arbeiten sehr gut mit ihm zusammen, mit ihm kommt eine bemerkenswerte Dynamik auf. Wir finden Gehör, und es ist gut, wenn der Maritime Koordinator in der Bundesregierung Wirkung entfalten kann.
WAMS: Hat der Bund die Schienenanbindungen der Seehäfen ausreichend im Blick?
Titzrath: Eine bessere Anbindung an die Güterbahn ist für die Seehäfen zentral. Die DB InfraGo als Schienen-Infrastrukturgesellschaft des Bundes hat ein ambitioniertes Sanierungsprogramm der wichtigsten Bahnkorridore gestartet. Dabei dürfen einzelne Seehäfen während der Sanierungsarbeiten natürlich nicht isoliert oder blockiert werden. Ein Güterzug ersetzt bis zu 52 Lkw. Es ist politisch gewollt, deutlich mehr Güterverkehr von der Straße auf die Schiene zu bringen. Der Bund hat wesentliche Hebel dafür in der Hand. Die Trassenpreise für die Güterbahnen dürfen nicht weiter steigen, sie müssen im Gegenteil sinken – etwa dadurch, dass der Deutsche Bundestag die gesetzlich vorgeschriebene Eigenkapitalverzinsung der zum Bundesunternehmen Deutsche Bahn gehörenden DB InfraGO wieder absenkt. Sonst bleibt der Anteil des Lkw-Verkehrs so hoch wie heutzutage, oder er steigt sogar wieder an.
WAMS: Auch für die Energiewende spielen die deutschen Seehäfen eine Schlüsselrolle. Stehen zum Beispiel in den Seehäfen ausreichend Schwerlastflächen für den Ausbau der Offshore-Windkraft zur Verfügung?
Titzrath: Der Bund will die Offshore-Windkraft bis 2030 von neun auf 30 Gigawatt ausbauen. Die heutzutage in Deutschland verfügbaren und die geplanten Schwerlastflächen reichen dafür aber nicht aus. Selbst mithilfe ausländischer Basishäfen wie Eemshaven in den Niederlanden oder Esbjerg in Dänemark ist dieses Ziel ambitioniert. Der systematische Ausbau der Kajen und der Schwerlastflächen in Cuxhaven ist ein wichtiger Schritt, der mit Hochdruck fortgesetzt werden muss. Die Rolle der deutschen Seehäfen in der Energiewende muss dringend weiter gestärkt werden. Sie sind die Basis für die Offshore-Windenergie, für den Import von LNG und später von Wasserstoff sowie umgekehrt auch für den Export von Kohlendioxid in die unterseeische Speicherung.
WAMS: In den Ausbau der Kajen und der Schwerlastflächen in Cuxhaven investieren Bund, Land und Wirtschaft jeweils 100 Millionen Euro. Ist das ein gutes Modell für den weiteren Ausbau der Offshore-Infrastruktur?
Titzrath: Ich finde Privatinitiativen auch hierbei grundsätzlich gut. Der Ausbau der Anlagen in Cuxhaven ist ein Vorzeigeprojekt.
WAMS: Wie kommen die Verhandlungen von Bund und Küstenländern zu einer zentralen Ablagestelle für Schlick aus Flüssen wie Elbe, Weser und Ems voran – zu einer künftigen Verbringung in die ausschließlich deutsche Wirtschaftszone?
Titzrath: Es gibt einen intensiven Dialog, doch es braucht ein umfassendes Beteiligungsverfahren, auch mit der EU-Kommission. Bund und Länder stehen gemeinsam in der Pflicht, die Bundeswasserstraßen funktionsfähig zu halten. Das setzt übrigens auch voraus, dafür überhaupt die personelle Ausstattung zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel bei der Wasserstraßenverwaltung des Bundes.
WAMS: Sie verlassen demnächst den Vorstand der HHLA. Im Präsidium des ZDS haben sie mehrere Jahre lang Ihre Expertise in die öffentliche Debatte zu den Seehäfen eingebracht. Bleiben Sie der maritimen Logistik und der Hafenwirtschaft verbunden?
Titzrath: Meine Amtszeit als ZDS-Präsidentin läuft noch bis zum November. Bis dahin gebe ich meine Expertise intensiv an unseren neuen Hauptgeschäftsführer Florian Keisinger weiter.
Als Vorstandsvorsitzende führt Angela Titzrath, 59, seit Anfang 2017 den Hamburger Hafenlogistik-Konzern HHLA. Nach Differenzen mit dessen Haupteignern, der Stadt Hamburg und dem Maritimkonzern MSC, verlässt die frühere Managerin des Daimler-Konzerns und der Deutschen Post die HHLA spätestens bis zum Jahresende. Titzrath vertritt seit 2022 obendrein als Präsidentin des Zentralverbandes der deutschen Seehafenbetriebe (ZDS) die Interessen der deutschen Hafenstandorte, dem Präsidium des ZDS gehörte sie bereits zuvor an. Im vergangenen Jahr wurden in den deutschen Seehäfen rund 274 Millionen Tonnen Güter umgeschlagen.
Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Er berichtet seit mehr als 30 Jahren über die maritime Wirtschaft, über Schifffahrt, Häfen und Werften.
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