«Jetzt ist eine ganz andere Stufe des Horrors erreicht»
Die Versorgungslage im Gazastreifen ist schon länger katastrophal – und verschlechtert sich zunehmend weiter. Beinahe jeden Tag werden bei Abgabestellen für Hilfsgüter Menschen getötet, und es mehren sich Berichte über Verhungernde und Hungertote, sagt Martin Frick, Leiter des Berliner Büros des UNO-Welternährungsprogramms WFP.
SRF News: Was wissen Sie über die aktuelle Lage vor Ort?
Martin Frick: Bereits zu Beginn des Krieges vor einem Jahr habe ich von einer verheerenden Situation gesprochen, die eigentlich gar nicht schlechter werden könne. Ich muss mich korrigieren, denn jetzt ist eine ganz andere Stufe des Horrors erreicht.
Wie geht es den Menschen in Gaza?
Nun wird immer mehr über Fälle von Kindern berichtet, die an Unterernährung sterben. Oder dass Menschen in der Schlange vor der Suppenküche zusammenbrechen, weil sie keine Kraft mehr haben. Eltern suchen im Müll nach Lebensmitteln. Das wenige, was sie finden, geben sie ihren Kindern und verzichten selbst. Es sind keine menschenwürdigen Umstände mehr.
Tatsächlich sind über 140'000 Tonnen Lebensmittel rund um den Gazastreifen gelagert. Wir haben die Logistik und das Personal.
Das Welternährungsprogramm hat am Sonntag mitgeteilt, Hilfsgüter und erfahrene Mitarbeiter seien vor Ort, man könne sofort nach Gaza liefern. Warum geschieht das nicht?
Tatsächlich sind über 140'000 Tonnen Lebensmittel rund um den Gazastreifen gelagert. Wir haben die Logistik und das Personal. Doch es scheitert immer wieder an aufwendigen Grenzkontrollen und an nicht funktionierender Kommunikation mit den israelischen Sicherheitsbehörden. Dazu kommen langwierige Abwicklungsprozesse. Immer wieder werden Konvois gestoppt, umgeleitet oder im letzten Moment doch nicht genehmigt. Seit Ende der zweimonatigen Blockade gelangen nur noch ganz geringe Mengen an Lebensmitteln in den Gazastreifen, wo die öffentliche Ordnung völlig zusammengebrochen ist.

Woran liegt das?
Es ist im Wesentlichen eine Frage des Zugangs. Die Logistik und die Lebensmittel sind da, teilweise in Sichtweite auf der anderen Seite der Grenze. Wir brauchen ungehinderten Zugang. Momentan schaffen es ungefähr 20 bis 30 Lastwagen pro Tag in den Gazastreifen – verglichen mit 600 bis 700 Lastwagen pro Tag. Nach unseren Berechnungen müssten aktuell mindestens 100 Lastwagen täglich über alle Grenzübergänge in den Norden, in die Mitte und in den Süden vor Gaza zugelassen werden.
Die israelische Armee hat nun auch die Stadt Deir al-Balah mit dem WHO-Hauptquartier angegriffen und UNO-Angestellte festgenommen. Was bedeutet das für die Versorgung?
Vor dem Angriff waren ungefähr 86 Prozent des Gazastreifens entweder Kriegszone oder Evakuierungsgebiet unter einem Räumungsbefehl. Zu den sogenannt sicheren Zonen gehörte bisher Deir al-Balah mit dem humanitären Hub. Der sichere Raum reduziert sich damit auf noch zehn Prozent, und selbst dort sind die Menschen nicht sicher. Die Folgen für die Bevölkerung sind verheerend.
Wir brauchen einen sofortigen Waffenstillstand. Dazu Zugang im grossen Massstab und offene Grenzen in den Gazastreifen hinein.
Was müsste geschehen, um jetzt Leben zu retten?
Wir brauchen einen sofortigen Waffenstillstand. Dazu Zugang im grossen Massstab und offene Grenzen in den Gazastreifen hinein. Wir brauchen die Genehmigung, die Hilfsgüter zu den Menschen bringen zu können. Zugleich braucht es viele Verteilstellen, um die Menschen zu erreichen, die zum Teil zu schwach sind, sich fortzubewegen. Es geht um die alten und kranken Menschen, die Menschen mit Behinderung und die Frauen und Kinder.
Das Gespräch führte Anna Trechsel.
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