Eine kleine Klimaanlage kämpft gegen die Hitze im Besprechungsraum von Karsten Wildberger (CDU). Bislang ist sein Ministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung in einem kleinen Büroturm in Berlin-Charlottenburg untergebracht, den das Innenministerium angemietet hat. Es fehlt ein eigener Etat, die Mitarbeiter sind noch bei anderen Ressorts angestellt, Strukturen müssen sich erst finden. Trotzdem redet Wildberger seit Tag eins seiner Amtszeit über die dringend notwendige Digitalisierung im Land. 

WELT AM SONNTAG: Herr Wildberger, wie digital ist Deutschland?

Karsten Wildberger: Die Bürgerinnen und Bürger leben heute deutlich digitaler, als es der Staat widerspiegelt. In der Verwaltung besteht seit Jahren ein massiver Nachholbedarf. Auch wenn es in der Grundlagenforschung, etwa zur künstlichen Intelligenz, große Fortschritte gibt – unsere digitalen Talente schaffen es noch nicht ausreichend, wirtschaftliches Wachstum zu generieren. Das müssen wir ändern.

WAMS: Wo sehen Sie den größten Nachholbedarf?

Wildberger: Zum einen muss der Staat digital aufholen. Zum anderen müssen wir unsere digitalen Fähigkeiten wirtschaftlich besser nutzen. Es reicht nicht, wenn wir Forschung fördern, aber keine Geschäftsmodelle daraus entstehen.

WAMS: Die EU-Kommission kritisiert, dass es an digitalen Kompetenzen in der Bevölkerung mangelt. Ist Deutschland zu alt für den Wandel?

Wildberger: Ich halte nichts davon, das pauschal aufs Alter zu schieben. Wir haben in Deutschland sehr unterschiedliche Voraussetzungen. Wenn wir uns die Nutzung von generativer KI ansehen, liegen wir außerhalb der USA an der Spitze. Aber die Nutzung variiert stark nach Bildungsstand. Diese digitale Schere ist ein großes Problem. Es ist unsere Aufgabe, alle mitzunehmen – in der Schule, am Arbeitsplatz, im Alltag.

WAMS: Verstärkt KI diese Kluft noch?

Wildberger: Jede neue Technologie bringt es mit sich, dass diejenigen, die sie besser anwenden können, überproportional profitieren, während die anderen zurückbleiben. Das sehen wir auch bei KI. Das darf aber nicht heißen, dass wir sie nicht nutzen. Im Gegenteil: Wir müssen sie zugänglich machen und gleichzeitig dafür sorgen, dass alle daran teilhaben können.

WAMS: Macht KI Experten besser – und andere überflüssig?

Wildberger: Das hängt vom Einsatz ab. KI kann Menschen ohne Programmierkenntnisse Zugang zu komplexen Aufgaben ermöglichen. Gleichzeitig profitieren Erfahrene mehr, weil sie ihre Fähigkeiten besser einbringen können. Entscheidend ist, dass wir durch KI neue Formen der Teilhabe schaffen – etwa durch personalisiertes Lernen, das sich an den individuellen Stil anpasst. Das geht nur, wenn man die Technologie versteht und nicht nur darüber redet.

WAMS: Viele Bürger wollen digitale Angebote nutzen, etwa bei der Kfz-Zulassung. Trotzdem funktioniert wenig. Warum?

Wildberger: Es fehlt oft an klaren technologischen Standards. Wir haben ein sehr fragmentiertes System mit vielen Zuständigkeiten auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene. Deshalb bauen wir gerade neue Strukturen auf. Wir bohren das dicke Brett Digitalisierung von drei Seiten an, mit konkreten Projekten und technischer Expertise. Wir wollen Dinge umsetzen, nicht nur verwalten.

WAMS: Den Kontakt zu den Bürgern haben aber die Kommunen. Was können Sie als Bundesminister überhaupt ausrichten?

Wildberger: Erstens suchen wir Partner-Bundesländer, die mitziehen, um gemeinsam die Digitalisierung in der Fläche voranzutreiben. Ich möchte gern mit mindestens zwei Bundesländern den Beweis antreten, dass wir im bestehenden System etwas verändern können. Ziel ist es, mindestens 50 Prozent mehr Online-Dienste in den nächsten zwei Jahren anbieten zu können. Zweitens wollen wir bestimmte Leistungen zentral entwickeln, zum Beispiel eine Plattform für Genehmigungen von Bauvorhaben. Drittens identifizieren wir bestehende gute digitale Lösungen und stellen sie über eine Bundes-Cloud den Kommunen zur Verfügung.

WAMS: Mit welchen Ländern wollen Sie diesen Beweis antreten?

Wildberger: Wir sind im guten Austausch mit mehreren Bundesländern und freuen uns über die Offenheit. Mir ist es wichtig, jetzt schnell ein Beispielland zu finden, um den Umsetzungsprozess zu testen, zügig in eine Lernphase zu kommen und dann mit anderen Ländern möglichst anzuwenden. Am weitesten fortgeschritten sind die Gespräche mit Hessen. 

WAMS: Bringen Sie das Geld mit, damit die Städte und Gemeinden auch mitmachen?

Wildberger: Natürlich kostet das Geld. Aber wenn wir es richtig aufsetzen, erzielen wir enorme Effizienzgewinne. Außerdem hat sich das Mindset hier geändert, viele Kommunen wollen nicht mehr alles selbst machen. Sie haben heute schon Probleme, Fachkräfte zu finden. Digitalisierung kann hier entlasten – für Bürger und Beschäftigte gleichermaßen.

WAMS: Bedeutet mehr Effizienz auch Stellenabbau?

Wildberger: Wir werden perspektivisch zu wenige Leute haben in der Verwaltung. Wenn wir durch digitale Dienste nicht nur den Bürgerinnen und Bürgern das Leben einfacher machen, sondern auch den Verwaltungsangestellten, ist das doch hervorragend. Trotzdem halte ich es für essenziell, dass man noch persönliche Ansprechpartner hat, die bei Fragen beraten. Und gerade dafür bleibt mehr Zeit, wenn wir die Standardprozesse digitalisieren und automatisieren

WAMS: Wenn die Verwaltung digitalisiert werden soll – warum funktioniert das nicht einmal innerhalb der Bundesregierung?

Wildberger: In der Bundesregierung müssen wir künftig viel stärker gemeinsam denken. Wenn wir etwa eine KI-Plattform für die Verwaltung aufbauen, dann darf nicht jedes Ministerium auf eigene Lösungen setzen. Das ist ineffizient. Unsere Aufgabe ist es, zentrale, sichere und leistungsfähige Angebote zu schaffen, die alle Ressorts nutzen können. Dafür braucht es auch den politischen Willen, eingefahrene Strukturen zu verändern.

WAMS: Haben Sie schon mit dem Finanzminister über Ihren ersten Haushalt gefeilscht? Die Rede ist von 20 Milliarden Euro. 

Wildberger: Über konkrete Summen möchte ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sprechen. Wir haben einen sehr konstruktiven Austausch über die Inhalte und Ziele. Zurzeit arbeiten wir auf Basis bestehender Haushaltstitel. Für neue Aufgaben wird es natürlich zusätzlichen Finanzbedarf geben. Aber: Geld allein reicht nicht. Es geht um Umsetzungsstärke – die Fähigkeit, Dinge konkret und technologisch fundiert zu realisieren.

WAMS: In Ihrem Haus stecken viele Projekte, die seit Jahren nicht vorankommen. Ist das Ministerium die „Bad Bank“ der Digitalisierung?

Wildberger: Nein. Wir bauen gerade die „Good Bank“ auf – mit klaren Prioritäten und konkreten Projekten. Was nicht funktioniert, wird überprüft. Aber ich bin ein Freund der Fokussierung. Wir müssen zeigen, dass Digitalisierung funktioniert – mit greifbaren Erfolgen.

WAMS: Woran sollen die Bürger Sie am Ende Ihrer Amtszeit messen?

Wildberger: Erstens: Es müssen deutlich mehr Verwaltungsleistungen digital verfügbar und einfacher nutzbar sein. Zweitens: Beim Infrastrukturausbau – Mobilfunk, Glasfaser – müssen Menschen spürbar Fortschritte erleben. Drittens: Wir wollen mehr Dynamik im Start-up- und KI-Ökosystem entfesseln. Wir haben das Talent in Deutschland, wir müssen es nur nutzen.

WAMS: Eines Ihrer Schaufensterprojekte soll die digitale Brieftasche werden, die Wallet. Warum setzen Sie auf solche Einzelprojekte?

Wildberger: Die Wallet ist kein Einzelprojekt, sondern ein Fundament für viele digitale Dienste. Sie soll eine sichere, mobile Identität schaffen – auf dem Handy, interoperabel, europaweit. Damit wird es möglich, sich auszuweisen und viele Verwaltungsleistungen, aber auch private Anwendungen wie Bank- oder Mobilitätsdienste digital und nutzerfreundlich zu verknüpfen. Das erste Release ist für Ende 2026 geplant.

WAMS: Warum kann der Staat nicht längst, was Apple oder die Bahn schon mit ihren Wallets machen?

Wildberger: Die staatliche Wallet erfüllt andere Anforderungen, etwa an Sicherheit, Datenschutz und Interoperabilität. Wir arbeiten mit einem offenen Standard, den auch private Anbieter nutzen können. Sparkassen, Bahn, Mobilitätsdienste – sie alle können ihre Angebote integrieren. Der Staat schafft den Rahmen, nicht die App allein.

WAMS: Am Ende könnten dann wieder Google und Apple dominieren. Wo bleibt da die digitale Souveränität?

Wildberger: Noch haben sich die großen US-Konzerne nicht auf die EU-Wallet-Standards eingelassen. Aber selbst wenn: Wir wollen ein europäisches Ökosystem aufbauen, mit echten Alternativen. Eine europäische Kreditkarte zum Beispiel wäre ein strategischer Fortschritt.

WAMS: Reicht es für digitale Souveränität, wenn die EU den Aufbau von KI-Gigafabriken subventioniert?

Wildberger: Mit KI hat ein neues Zeitalter begonnen, sie verändert die Art, wie wir programmieren und Wertschöpfung betreiben. Deshalb brauchen wir eigene KI-Basismodelle in Europa – nicht nur, weil sonst das geistige Eigentum bei anderen liegt, sondern weil solche Modelle auch Werte und Wissen derer widerspiegeln, die sie trainieren. Wenn wir jungen Unternehmen genügend Rechenleistung bereitstellen, entsteht echte Dynamik. Das Kapital lässt sich dafür mobilisieren. 

WAMS: Sind Sie sicher? Der Facebook-Konzern Meta bietet KI-Topingenieuren 100-Millionen-Dollar-Boni – da kann Deutschland nicht mithalten.

Wildberger: Solche überdimensionierten Zahlen können nicht unser Modell sein. Und nicht jeder Entwickler arbeitet nur für Geld. Viele junge Menschen wollen an sinnstiftenden Projekten arbeiten. Unsere Aufgabe ist es, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen und Infrastruktur bereitzustellen. Die Unternehmen sind in einem Rennen darum, wem es als Erster gelingt, eine KI zu entwickeln, die ihre nächste Version selbst schreibt. Deswegen ist jetzt der Moment zu handeln.

Daniel Zwick ist Wirtschaftsredakteur in Berlin und berichtet für WELT über Wirtschafts- und Energiepolitik, Digitalisierung und Staatsmodernisierung.

Jan Dams ist Chefreporter der WELT AM SONNTAG.

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