Rose, Canyon, Rapha, Maap – Das neue Phänomen, das die Fahrradindustrie begeistert
Es ist 18:40 Uhr am Montag. Wir rauschen mit Westwind im Rücken am Hamburger Großmarkt vorbei aus der Stadt hinaus Richtung Speckgürtel. Drei Frauen und elf Männer im Alter zwischen 22 und 53 Jahren. Ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus Angestellten, Freiberuflern und Studenten, die sich nicht kennen und eigentlich nur eines gemeinsam haben: die Lust am Rennradeln. Wir bilden eine Zweierreihe, die Fahrradcomputer zeigen um die 35 km/h an. Hinter einer Wolke kommt die Sonne hervor. Es riecht nach dampfendem Asphalt und Freiheit.
Formiert hat sich unsere Fahrgemeinschaft erst vor ein paar Minuten an einem Laden in der Hamburger Innenstadt, auf Einladung des Fahrradherstellers Rose. Das Bocholter Unternehmen hat hier vor ein paar Wochen ein 500 Quadratmeter großes Geschäft eröffnet, direkt an der Binnenalster gegenüber dem berühmten Hotel „Vier Jahreszeiten“.
Wenige gut ausgeleuchtete Räder stehen wie Exponate auf kleinen Podesten. Ein paar Trikots hängen nach Farben sortiert an der Wand. Es gibt bodentiefe Spiegel und gleich daneben eine Bar mit einer professionellen Kaffeemaschine von La Marzocco und einem Kühlschrank voller Szene-Limos.
Die Bike-Boutique in der Hamburger City ist Teil einer scheinbar paradoxen Entwicklung in der Fahrradindustrie. Die Branche steckt seit Jahren in einer Krise. Weil in der Pandemie erst jeder ein neues Rad wollte und dann alle eines hatten, kämpfen Hersteller und Handel mit hohen Lagerbeständen, Rabattschlachten und Geschäftsaufgaben.
Doch inmitten der Misere ist nun ein Gegentrend zu beobachten: Hersteller, die eigentlich von der Direktvermarktung ihrer Radsportprodukte übers Internet leben, eröffnen mit einem Mal reihenweise Geschäfte in den besten Lagen der teuersten Metropolen. An der Alten Schönhauser Straße in Berlin-Mitte, in München-Haidhausen oder am Mediapark in Köln ploppen plötzlich durchgestylte Läden auf, die mit großen Promi-Partys eröffnet werden und auch danach eher als Eventlocations mit angeschlossenem Verkauf fungieren. Und als Startpunkt für „Social Rides“ – einem Phänomen, das gerade den Radsport revolutioniert und die Industrie elektrisiert.
Neben mir fährt Catharina. Sie ist 25 Jahre und beginnt in Hamburg gerade ihr Rechtsreferendariat. Jetzt kauert sie in aerodynamischer Haltung auf einem gelben Carbonrennrad und schaut konzentriert nach vorn. Um den knappen Abstand zum Vordermann zu halten, muss sie ihre Geschwindigkeit permanent anpassen, bremst kurz ab und steigt dann wieder für ein paar kräftige Tritte aus dem Sattel. Bei ihr wirkt das gekonnt und mühelos. Unser momentanes Tempo, bestätigt sie, ohne den Blick zur Seite zu wenden, sei für sie nicht wirklich eine Herausforderung. „Ich fahre sechsmal die Woche“, sagt sie, demnächst werde sie sogar ihren eigenen Ride leiten.
„Schwall junger Leute“
Weiter vorn im Pulk rollt Sebastian Bomm. Er ist beruflich hier. Der 42-Jährige verantwortet bei Rose den Bereich Customer Experience, also Kundenerlebnis, worunter früher vor allem die Nutzerführung im Webshop verstanden wurde – heute aber in zunehmendem Maße Erlebnisse in der realen Welt. „Wir stellen fest, dass derzeit ein großer Schwall junger Leute in den Radsport drängt, darunter auch sehr viele Frauen“, sagt Bomm.
Rose gelinge es gut, diese neue Zielgruppe zu gewinnen, und ein zentraler Schlüssel dazu seien stationäre Stores und Veranstaltungen vor Ort. „Anschauen, Anfassen, Probefahren“, lautet Bomms Dreiklang. Ein Kern der Strategie sind organisierte Gruppenausfahrten, für die der Hersteller im Frühjahr eine eigene Marke namens „Rose Circle“ gegründet hat. 2000 Hobbyradler hätten schon mitgemacht, sagt Bomm. „Das rollt gut an!“
Rose hängt sich wie andere Hersteller an einen Trend, der seit einiger Zeit im Radsport zu beobachten ist. Wo früher Männer in ihren Fünfzigern in unvorteilhaften Spandexhosen einsam im Gegenwind strampelten, tauchen plötzlich Scharen junger Menschen auf, die in Gruppen munter plaudernd über die Landstraße radeln. Die Ausfahrten werden über das Internet organisiert, sind offen für jeden und kombinieren sportliche Betätigung mit einer Art rollender Afterwork-Party bei elektrolythaltigen Getränken. Ein Phänomen, das Autopendler wenig begeistert, doch die Fahrradindustrie umso mehr.
„Wir sehen, dass Unternehmen wie Standert, Rose oder Canyon sich gerade im urbanen Milieu sehr gut mit ihrer Kundschaft über Rides verbinden“, sagt Pablo Ziller vom Zweiradindustrieverband ZIV. Er sieht in den sportlichen Ausfahrten auch einen grundlegenden Wandel des Sports. „Es lenkt den Radsport weg aus der Egozone der Alleinradler. Gerade auch junge Frauen identifizieren sich durch die Gruppen-Rides vermehrt mit dem Rennrad- und Gravelbikesport“, sagt Ziller. Die Branche erschließe sich so neue Zielgruppen. „Der Radsport in Vereinen schafft dies aktuell so nicht.“
Beim Koblenzer Hersteller und Direktversender Canyon ist gut zu sehen, wie sich die Branche auf die neue Radsportszene ausrichtet. „Performance ist extrem wichtig. Aber für viele unserer Kundinnen und Kunden spielt der soziale Aspekt inzwischen eine immer größere Rolle“, erklärt CEO Nicolas de Ros Wallace. Der Manager verfolgt mit seinem Unternehmen deshalb eine zweispurige Strategie.
Zum Start der Tour de France war Canyon in vergangene Woche mit einem Pop-up-Store vor Ort und stattet Stars wie den mehrfachen Weltmeister Mathieu van der Poel mit Rennmaschinen aus Koblenz aus. „Doch wir haben zuletzt festgestellt, dass wir noch viel mehr in Graswurzel-Events investieren müssen, um Menschen zu erreichen, die vielleicht gar nicht wissen, wer dieser van der Poel überhaupt ist.“
Radeln mit Kai Pflaume
Als Canyon im Frühjahr in München einen neuen Store eröffnete, fuhr das Unternehmen Fußballtorwart Manual Neuer und Moderator Kai Pflaume auf. Mit den branchenfernen Markenbotschaftern bietet das Unternehmen seinen Kunden von Zeit zu Zeit Rennradtouren in Promi-Begleitung an. 250 Events veranstaltet Canyon im Jahr, darunter allein in Deutschland 99 Gruppenfahrten.
Ihr größtes Wachstum erzielen sportiv ausgerichtete Marken heute mit einem Kunden-Typus, den de Ros Wallace so skizziert: um die 25 Jahre alt, zu fast 50 Prozent weiblich, weniger an organisiertem Sport interessiert und umso mehr an persönlichem Wohlbefinden, physischen und emotionalen Erlebnissen. „Es sind junge Menschen, die schon bereit sind, Geld für ein gutes Rad auszugeben, doch sie brauchen keine 8000-Euro-Rennmaschine“, beobachtet de Ros Wallace.
Dass man auch mit Radsportneulingen gutes Geld verdienen kann, zeigte sich vor ein paar Tagen bei der Markteinführung eines neuen Einsteiger-Rennrads für 999 Euro. Es erwies sich als Renner auch in finanzieller Hinsicht, wie de Ros Wallace berichtet: „Das Rad war schon am ersten Wochenende ausverkauft.“
Wie sehr sich die Radsportszene verändert hat, kann man sich in Berlin-Mitte anschauen. An der Alten Schönhauser Straße haben sich gleich zwei Unternehmen mit Ladengeschäften niedergelassen, die in dieser Form vor 20 Jahren wohl kaum Kunden gefunden hätten: Rapha und Maap. Vor allem an Samstagen werden die beiden nebeneinander liegenden Läden von coolen Großstädtern umlagert, die ihre effektvoll verschlammten Gravelbikes lässig in die vertikalen Fahrradständer wuchten, bei einem Flat White zusammenstehen, etwas fachsimpeln oder flirten, ehe sie auf den Rädern Richtung Wandlitz oder Grunewald abzischen.
Die Fahrradbekleidungsmarke Rapha steht wie keine andere für den Wandel der Rennradelei zum Mode-Sport. Das Londoner Label hatte als Erstes das Kunststück vollbracht, Radklamotten zu entwerfen, die funktional waren und dabei nicht komplett peinlich aussahen.
Eine bis dato unmöglich erscheinende Kombination, ermöglicht durch hochwertige Textilien, gefällige Farben und vorteilhafte Schnitte, die dem Unternehmen einen rasanten Siegeszug auf den Landstraßen Europas und der Welt ermöglichte. Der weiße Streifen am linken Oberarm, das Markenzeichen der Rapha-Trikots, wurde von einer Straßensaison auf die nächste zu einem weithin sichtbaren Erkennungszeichen einer neuen Radlergeneration, die selbst auf dem Sattel noch Modegeschmack beweist und Leistungsfähigkeit vor allem im finanziellen Sinne.
Denn an der Kleidung sparen die neuen Radler nicht. Eine Rapha-Kombi aus Trikot und Hose kann schnell 300 oder 400 Euro kosten. Der australische Hersteller Maap, der mit seinen ersten beiden Stores in Amsterdam und Berlin jetzt auf den europäischen Markt drängt, setzt noch einen drauf. Die Radhose, in der an der Alten Schönhauser gerade ein Mittzwanziger vorgefahren kommt, kostet im Laden 380 Euro. Eine Stange Geld für eine Sporthose, aber man sieht gut aus.
Die Hamburger Rose-Runde geht nach 53 Kilometern gegen 20:30 Uhr zum gemütlichen Teil über. Der Veranstalter schmeißt eine Runde Cola und Limo. Ein paar Mitfahrer, die nach zwei Plattfüßen unterwegs verloren gegangen waren, trudeln auch noch ein. Sebastian Bomm nimmt einen tiefen Schluck aus der Flasche und redet schon über Events in anderen Städten, über Erdbeer-Rides mit Fruchtverkostung, eine Kiosktour durchs Ruhrgebiet. „Das ist alles nicht mehr so knöchern und verbissen wie früher“, sagt er. Statt ausgelaugt und fertig kämen die Leute von den Gruppenausfahrten heute mit einem Strahlen im Gesicht zurück. Ihre Räder kaufen sie dann im Internet.
Steffen Fründt ist Wirtschaftskorrespondent der WELT und berichtet über Themen aus Luftfahrt, Tourismus sowie die Sport- und Fahrradbranche. Sein erstes Rennrad bekam er mit zwölf Jahren, ein grünes Stahlrennrad Modell „Didi Thurau“
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