Überlebende von Srebrenica: «Ich musste einfach zurückkehren»
Ifeta Mejremic hat schlimme Szenen miterleben müssen: «Ich habe gesehen, wie eine Mutter gefragt wurde, ob sie lieber den älteren oder den jüngeren Sohn hergeben will, damit er getötet wird.» Srebrenica, so die ältere Frau, könne man nicht beschreiben. Nur wer es erlebt habe, könne verstehen, was sich damals abgespielt hat.
Ifeta Mejremic ist eine Überlebende des Völkermordes von Srebrenica. Sie ist dabei, als am 11. Juli 1995 bosnisch-serbische Truppen und serbische Paramilitärs unter der Führung von Ratko Mladic die ostbosnische Kleinstadt einnehmen. In den folgenden Tagen töten seine Männer über 8000 bosnische Muslime. Die meisten der Opfer sind männlich, aber auch Frauen und Kinder werden brutal ermordet. Mehrere Gerichtsurteile klassifizieren das, was damals in und um Srebrenica passiert ist, als Völkermord.
Auch Ahmed Ustic hat den Völkermord vor 30 Jahren überlebt. Als der Krieg 1992 ausbricht, ist er noch ein Teenager: «Du weisst nicht, was machen, wie reagieren. Ich konnte es einfach nicht glauben, dass der Krieg angefangen hat.» Er war den gesamten Krieg über in seiner Heimatstadt Srebrenica.
Der Bosnienkrieg
Bosnien-Herzegowina erklärt 1992 die Unabhängigkeit von Jugoslawien. Im neu entstandenen Staat leben verschiedene Volksgruppen: Eine Mehrheit muslimischer Bosniaken sowie orthodoxe Serben und katholische Kroaten. Die meisten bosnischen Serbinnen und Serben wollen die Unabhängigkeit nicht akzeptieren. Mit der Unterstützung des Nachbarlandes Serbien greifen sie zu den Waffen. Der Krieg beginnt.
«Im Grunde geht es darum, wer welches Territorium des zerfallenden Staates Jugoslawien erhält», sagt die Historikerin Marie-Janine Calic. «Damit hat der Krieg eine ethnisch-religiöse Komponente», so die Expertin. Das habe ihn brutaler werden lassen.
Die Bildung von ethnisch homogenen Territorien sind zentrale Kriegsziele. Von Anfang an werden daher schwere Kriegsverbrechen begangen: Massaker, Massenvergewaltigungen und Vertreibungen sind Teil der Kriegstaktik der bosnischen Serben. Der Völkermord von Srebrenica, wenn auch in seiner Dimension einmalig, kann daher nur im Zusammenhang mit diesen Kriegsverbrechen verstanden werden.
Ahmed Ustic überlebt den Todesmarsch
Als Srebrenica im Juli 1995 fällt, entscheiden sich Ahmed Ustic und sein Vater zur Flucht durch die Wälder. Tagelang sind Vater und Sohn unterwegs, durch vermintes und feindlich gehaltenes Gebiet. Mehrere Tausend versuchen über diesen sogenannten Todesmarsch in Sicherheit zu kommen. Die meisten sterben dabei. Sie werden von serbischen Truppen gefangen genommen und erschossen, treten auf Landminen oder sterben an Erschöpfung.

Auch Ahmed Ustic wird angeschossen. Dennoch überleben er sowie sein Vater den Marsch. «Dank der Hilfe meiner Verwandten habe ich den ersten Tag überlebt. So konnte ich mich auf diese neue Situation einstellen.» Wie viele Tage sie dabei unterwegs waren, kann er bis heute nicht sagen.
Rückkehr nach Srebrenica
Trotz des grossen Leids, das er in Srebrenica erfahren hat, ist Ahmed Ustic in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Er hatte das Gefühl, es jenen schuldig zu sein, die damals getötet wurden: «Ich wollte nicht, dass der Tod meiner Verwandten und besten Freunde vergeblich war. Ich musste einfach zurückkehren.»

Er eröffnet den Coiffeursalon wieder, den sein Grossvater gekauft hatte und dann an den Vater übergeben hat. Das war vor 17 Jahren. Mittlerweile ist Srebrenica wieder das Zuhause von Ahmed Ustic und seiner Familie geworden.
Ifeta Mejremic setzt sich für Versöhnung ein
Auch Ifeta Mejremic ist nach dem Völkermord in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Ihr gelang damals die Flucht auf der Ladefläche eines Lastwagens. Die Rückkehr in ihr altes Zuhause, etwa 40 Autominuten von Srebrenica entfernt, sei wie eine Wiedergeburt gewesen: «Ich spürte, hier sollte mein Leben sein.» Auch sie hatte das Gefühl, es ihrem Bruder schuldig zu sein, der im Ort getötet wurde.
Mithilfe eines Kredits bauen Ifeta Mejremic und ihre Schwester eine Hühnerfarm auf. Sie gründet zudem eine Organisation, die anderen Frauen bei der Rückkehr hilft. Es sei ein grosser Kampf gewesen, erinnert sie sich. Siebzig Prozent der Frauen, die zurückkehrten, hätten ihre Männer verloren.
Von Anfang an sei aber auch die Versöhnung im Zentrum ihrer Arbeit gestanden: «Frieden, Versöhnung und Koexistenz beginnen mit den Frauen. Der Schmerz einer Mutter, die ein Kind verliert, ist immer derselbe. Egal ob es eine bosniakische, kroatische oder serbische Mutter ist.»
Mit ihren Nachbarn habe sie nie Probleme, egal ob mit Serbinnen oder Bosniaken. Sie habe Freunde auf der ganzen Welt, sagt sie, und das mache sie zur reichsten Frau.
Alltag in Srebrenica
Das Zusammenleben zwischen den einfachen Menschen funktioniere gut, sagt Ahmed Ustic. Seine Kundschaft bestehe aus beiden Volksgruppen. Man sitze im Café zusammen, verbringe die Zeit gemeinsam. Den Völkermord oder den Krieg vermeide man allerdings als Gesprächsthema.

Neben seiner Arbeit im Coiffeursalon engagiert er sich als Präsident des lokalen Motorradclubs. Ein Ziel des Clubs sei es, Srebrenica bekannter zu machen. «Möglichst viele sollen hierherkommen und sehen, dass Srebrenica mehr ist als ein Schreckgespenst.» Er glaube an diesen Ort, auch wenn sein Optimismus vielleicht utopisch sei, sagt er lachend.
Instrumentalisierung des Ortes
Ein grosses Problem sieht Ahmed Ustic in der mangelnden wirtschaftlichen Perspektive. Ein weiteres sei die politische Instrumentalisierung der Stadt. «Srebrenica wird in den Medien oft verzerrt dargestellt, und Politiker nutzen den Ort für ihre Zwecke», sagt Ahmed Ustic.

Srebrenica liegt im mehrheitlich serbisch geprägten Landesteil Bosnien-Herzegowinas, der sogenannten Republika Srpska. Führende Politiker hier leugnen immer wieder den Völkermord, eine Straftat in Bosnien-Herzegowina. Sie hetzen auch weiterhin gegen die anderen Volksgruppen, setzen auf Spaltung statt Versöhnung. Eine Aufarbeitung des Völkermordes hat nicht stattgefunden.
Das Gedenken ist beiden wichtig
Das Andenken an den Völkermord sei ein stetiger Prozess, der über den Jahrestag hinausgehe, ist Ahmed Ustic überzeugt. Seine Art des Gedenkens ist sein Alltag in Srebrenica. Er kann sich nicht vorstellen, woanders zu leben. Hier fühle er sich am sichersten, es sei sein Zuhause, sagt er. Auch seine beiden Kinder wollen hierbleiben. Die Tochter wird in ein paar Jahren den Coiffeursalon übernehmen und so die Familientradition weiterführen.
Auch Ifeta Mejremic will nicht mehr wegziehen. Sie engagiert sich aktiv am Gedenken an den Völkermord. In diesen Tagen laufen Überlebende und Angehörige die Route des Todesmarsches, den Ahmed Ustic vor drei Jahrzehnten durchlitten hat, in umgekehrter Richtung ab. Der jährliche Gedenkmarsch kommt auch an Ifetas Mejremics Hof vorbei. Sie bietet den Menschen jeweils Verpflegung und eine Dusche an. Beide – Ifeta Mejremic und Ahmed Ustic – wollen, dass die Geschichte von Srebrenica weitererzählt wird. Damit nicht vergessen geht, was damals passiert ist.
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