Deutschland droht der dauerhafte "fiskalpolitische Ausnahmezustand"
Mit enormen neuen Schulden kann die schwarz-rote Koalition Infrastrukturinvestitionen und steigende Verteidigungsausgaben finanzieren. Der Ökonom Florian Schuster-Johnson vom Thinktank Dezernat Zukunft warnt, bald könnte Haushaltspolitik nur noch über Sondervermögen und Ausnahmeregelungen funktionieren - wenn überhaupt. Der Teil des Bundeshaushalts, der zur politischen Gestaltung zur Verfügung steht, schrumpft immer weiter. 2035, so prognostiziert Schuster-Johnson, könnten 97 Prozent des Budgets festgeschrieben und die Regierung finanzpolitisch manövrierunfähig sein. Das bedroht die Wirtschaft und die Demokratie.
Das Sondervermögen und die Ausnahme für Verteidigungsausgaben in der Schuldenbremse sollten ein fiskalischer Befreiungsschlag sein. Jetzt warnen Sie davor, dass die Bundesregierung innerhalb von zehn Jahren finanziell komplett manövrierunfähig wird. Was ist da schiefgelaufen?
Solche großen Fiskalpakete, wie wir es Anfang des Jahres gesehen haben, und ein immer kleiner werdender politischer Spielraum im Kernhaushalt sind kein Gegensatz - sondern zwei Seiten derselben Medaille. Das Fiskalpaket wurde geschnürt, weil sich die neue Regierung im Prinzip unmittelbar nach der Bundestagswahl gewahr wurde, dass im Haushalt wenig Platz ist für all die Dinge, die sie tun wollte. Also insbesondere für die Aufrüstung der Bundeswehr und für Infrastrukturinvestitionen. Man muss sich mit Ausnahmeregeln Spielraum schaffen, weil die Spielräume im normalen Haushalt so klein sind, dass damit große Herausforderungen nicht bewältigt werden können. Wir haben bei unserer Analyse festgestellt, dass solche Situationen in Zukunft noch wahrscheinlicher werden.
Warum verschärft sich das Problem?
Als die Schuldenbremse 2011 in Kraft trat, begann zunächst eine wirtschaftlich außergewöhnlich gute Zeit. Wir lebten in diesem Jahrzehnt vor Corona in einer rosaroten Welt. Wir haben gar nicht gemerkt, dass unser Land einen Finanzrahmen hat, der große Herausforderungen nicht bewältigen kann. Als Corona kam, konnte die Bundesregierung für einige Jahre die Ausweichklausel der Schuldenbremse aktivieren. Aber seit 2023 gilt die Schuldenbremse jetzt wieder und die Schwierigkeiten treten offen zutage. Die Ampel-Koalition ist schließlich daran zerbrochen. Die neue Bundesregierung hat eben durch dieses große Finanzpaket eine Lösung gefunden.
Das Sondervermögen soll über mehrere Jahre ausgegeben werden. Die Verteidigungsausgaben sind dauerhaft von der Schuldenbremse ausgenommen. Warum werden die Spielräume in den kommenden Jahren so viel enger?
Da gibt es zwei Haupttreiber. Der eine sind steigende Zinsausgaben. Wenn wir viele Kredite aufnehmen, um damit jetzt beispielsweise in Straßen, Schienen und Breitband und Energienetze zu investieren, dann kosten mich diese Kredite etwas. Anders als bei dem schon länger existierenden Sondervermögen für die Bundeswehr werden die Zinsen für das neue Sondervermögen aus dem Bundeshaushalt finanziert. Dasselbe gilt für die von der Schuldenbremse ausgenommenen für Verteidigungs- und Sicherheitsausgaben. Der andere große Punkt sind Sozialtransfers: vor allem das Bürgergeld, Zuschüsse zur Rente und zum Gesundheitsfonds. Diese Belastungen werden in den nächsten Jahren weiter steigen, weil die Babyboomer in Rente gehen, Ausgaben zunehmen und Beitragseinnahmen weniger stark wachsen. Noch größere Anstiege drohen bei der Kranken- und Pflegeversicherung. Zudem geht die Bundesregierung momentan auch von steigender Arbeitslosigkeit aus, also steigenden Ausgaben für die Arbeitslosenunterstützung. Durch all dies wird der verfügbare Platz im Haushalt immer geringer. Wobei das Entscheidende ist: Diese Ausgaben sind rechtlich verpflichtend. Und sie spiegeln wider, dass viele Menschen in Deutschland nicht genug verdienen, um ihr Leben ohne staatliche Quersubventionierung zu bestreiten.
Sie warnen nicht: Uns geht das Geld aus! Sondern, wir steuern auf eine Situation zu, in der praktisch alle Ausgaben des Bundes komplett festgelegt sind. Was ist daran so gefährlich?
Zum einen sollte ein Staat, eine Regierung, einen einheitlichen Finanzrahmen haben. Die Menschen müssen nachvollziehen können, was mit ihrem Geld geschieht. Das ist bei solchen Konstruktionen über Nebenhaushalte nicht mehr gegeben. Zum anderen beschädigt es die Demokratie. Wenn die demokratisch gewählte Regierung im Haushalt überhaupt keinen Gestaltungsspielraum mehr hat, hat sie keine Chance, ihr Programm, für das sie gewählt wurde, umzusetzen. Wahlen werden am Ende fiskalisch bedeutungslos. Der einzige Ausweg sind Sondervermögen oder andere Sonderregeln. Dafür muss die Regierung aber immer ans Grundgesetz ran, was nur mit einer Zweidrittelmehrheit möglich ist.
In Ihrem Papier vergleichen sie das mit der Situation in den USA. Worin besteht die Parallele?
Alle paar Jahre verhandeln die beiden Parteien in den USA mühsam darüber, die Schuldenobergrenze wieder zu erhöhen, um das Funktionieren der Regierung zu sichern. In Deutschland wären das immer wiederkehrende Verhandlungen über Verfassungsänderungen für Sondervermögen. Es könnte aber schlimmer kommen. Denn niemand weiß, wie die künftigen Mehrheiten im Bundestag aussehen werden. So könnte Deutschland in einen permanenten finanzpolitischen Ausnahmezustand rutschen, wenn nicht nur im Haushalt kein Geld mehr da ist, sondern auch gleichzeitig keine erreichbare Zweidrittelmehrheit, um noch Sondervermögen zu schaffen. Das bedroht die Wirtschaft, den Wohlstand und die Demokratie.
Dann müssen wir einfach noch mehr sparen und vor allem bei den Sozialausgaben entsprechend kürzen.
Ja, wir müssen unseren Haushalt effizienter aufstellen. Da gibt es an einigen Stellen Wildwuchs. Aber bei den entscheidenden, großen Ausgabenblöcken Zinsen und Sozialausgaben ist nicht viel zu holen. Das Bundesverfassungsgericht hat beim Existenzminimum eine klare Linie eingezogen, sodass es beim Bürgergeld nicht viel Spielraum gibt. Hinter der Rente stehen ebenfalls rechtlich geschützte Ansprüche. Mit Kürzungen können wir diese Ausgaben nicht in annähernd ausreichendem Maß herunterbringen. Das gelingt nur langfristig, indem wir dafür sorgen, dass weniger Zuschüsse benötigt werden. Indem wir mehr Frauen in Vollzeitarbeit bringen. Indem wir dafür sorgen, dass Rentner nicht abschlagsfrei so früh in Rente gehen, dass die Arbeitsanreize im Bürgergeldsystem verbessert werden. Das sind die Stellschrauben, mit denen wir – in mehreren Jahren – wieder mehr Spielraum im Bundeshaushalt bekommen könnten.
Allein über die Ausgabenseite bekommen wir das Problem laut ihrer Studie nicht in den Griff. Sie fordern auch eine Reform des Finanzrahmens, das heißt der Schuldenbremse. Warum?
Wir müssen gewaltige Investitionen nachholen. Deutschland und seine Exportwirtschaft müssen sich auf grundlegende Änderungen der Weltwirtschaft einstellen. Die neue sicherheitspolitische Lage erfordert hohe Verteidigungsausgaben. Diese Anforderungen an den Staat bleiben dauerhaft. Die Lösung, die man jetzt gefunden hat, ist aber nicht auf Dauer angelegt. Die Regierung sollte die Schuldenbremse jetzt so reformieren, dass wir nicht in ein paar Jahren wieder ans Grundgesetz müssen.
Sie haben gesagt, die Zinskosten seien ein Teil der Ausgaben, die den Haushalt immer weiter einengen. Zeigt das nicht, dass wir dringend Schulden abbauen müssen?
Wir müssen dafür sorgen, dass das Geld, das wir jetzt ausgeben, möglichst viel Wirtschaftswachstum erzeugt. Das sorgt am Ende des Tages für Steuereinnahmen und für sinkende Sozialausgaben. Wir können nicht die Augen davor verschließen, dass wir die Bundeswehr aufrüsten und im gleichen Atemzug dafür sorgen müssen, dass unsere Schulen, Kitas, Straßen, Schienen und Krankenhäuser gut funktionieren. Wenn wir das jetzt nicht machen, dann wird Deutschland wirtschaftlich noch größere Probleme bekommen. Diese Dinge gehen über eine Generation hinaus und folglich auch über das Steueraufkommen, das eine Generation erbringt. Deshalb ist die Kreditfinanzierung angezeigt. Es ist unmöglich, diese Summen aus dem Haushalt herauszusparen. Insofern sind Schulden momentan der richtige Weg.
Schwarz-Rot war mit dem Versprechen angetreten, mit den neuen Schulden keine Haushaltslöcher zu stopfen, sondern zusätzliche Investitionen zu finanzieren, die für Wachstum sorgen. Dazu sollten Reformen kommen, die ebenfalls die Wirtschaft ankurbeln. Wie ist der Stand bei diesem Versprechen aus Ihrer Sicht aktuell?
Das Versprechen, zusätzlich zu investieren, um das Wachstum anzukurbeln und damit auch Zinsausgaben tragbar zu machen. Das ist - zumindest nach dem, was wir über den aktuellen Haushalt bislang wissen, weitgehend erfüllt worden. Bei den Reformen, insbesondere beim Arbeitsmarkt, sehen wir noch nichts. Mein Wunsch ist, dass die Koalition das jetzt angeht. Spätestens in den Haushaltsplanungen für 2027 sollte sich widerspiegeln, wie sie den Arbeitsmarkt und das Sozialsystem umbauen und dementsprechend das Wachstum stärken will. Dann könnte der Bundeshaushalt in Zukunft schon etwas besser aussehen.
Mit Florian Schuster-Johnson sprach Max Borowski.
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