Insolvenzen steigen auf Zehn-Jahres-Hoch – vor allem der Mittelstand leidet
Der rasante Anstieg der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland setzt sich fort. 11.900 Firmenpleiten meldet die Wirtschaftsauskunftei Creditreform für das erste Halbjahr 2025, das sind 9,4 Prozent mehr Fälle und unter dem Strich so viele wie seit zehn Jahren nicht mehr. „Trotz einiger Hoffnungssignale steckt Deutschland weiter in einer tief greifenden Wirtschafts- und Strukturkrise“, kommentiert Patrik-Ludwig Hantzsch, der Leiter Wirtschaftsforschung bei Creditreform. „Unternehmen kämpfen mit schwacher Nachfrage, steigenden Kosten und anhaltender Unsicherheit.“
Und mit den finanziellen Folgen der mittlerweile über zwei Jahre anhaltenden Rezession. „Rücklagen werden aufgebraucht, Kreditlinien nicht verlängert und immer mehr Firmen geraten in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten“, beschreibt Hantzsch. Nahezu täglich gebe es Berichte über Unternehmen in Schieflage, darunter auch immer wieder prominente Namen wie zuletzt der Modehersteller Gerry Weber, das Flugtaxi-Unternehmen Lilium oder die Gastro-Kette Sausalitos. Und diese Entwicklung werde sich auch bis zum Jahresende nicht verändern. „Das Insolvenzrisiko bleibt hoch“, sagt der Ökonom. „Die Zahl der Pleiten wird weiter steigen.“
Die Auswirkungen für Gläubiger und die Volkswirtschaft insgesamt sind aber auch jetzt schon erheblich. Auf rund 33,4 Milliarden Euro schätzt Creditreform die Forderungsausfälle in den ersten sechs Monaten, das sind fast vier Milliarden Euro mehr als im ersten Halbjahr 2024 und sogar gut 20 Milliarden mehr als 2023.
Noch deutlicher wird die Dimension des Schadens aber im Vergleich mit den Jahren davor. So gab es seit 2016 allein fünf Jahre, in denen der Schaden im gesamten Jahr niedriger lag als der aktuelle Halbjahreswert, teilweise sogar deutlich. Zwar kann es passieren, dass Gläubigerforderungen im Verlauf eines Verfahrens noch ganz oder zumindest teilweise bedient werden. Einschlägige Untersuchungen zeigen aber, dass in über 90 Prozent der Fälle der Großteil des Geldes weg ist.
Die Zahl der bedrohten oder weggefallenen Arbeitsplätze wiederum lag im ersten Halbjahr bei rund 141.000 und damit sechs Prozent höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres, getrieben vor allem von Großinsolvenzen im Klinik- und im Pflegebereich.
Grundsätzlich indes haben Großinsolvenzen im ersten Halbjahr 2025 nicht die Rolle gespielt wie etwa im Vorjahr als es Fälle wie die Warenhauskette Galeria Karstadt Kaufhof, den Reisedienstleister FTI Touristik oder die Modehandelskette Esprit gab.
Stattdessen entwickeln sich die Fallzahlen im Mittelstand derzeit besonders dynamisch. Zwar betrifft die Mehrheit der Insolvenzen weiterhin Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitern. Sie machen allein gut 80 Prozent der Fälle aus. Bei Firmen mit elf bis 50 Beschäftigten und vor allem in der Größenklasse von 51 bis 250 Mitarbeiter ist die Zunahme aber überdurchschnittlich mit bis zu 17 Prozent mehr Pleiten.
Beim Blick auf die betroffenen Wirtschaftsbereiche fällt vor allem das verarbeitende Gewerbe ins Auge. Hier stiegen die Insolvenzen mit 17,5 Prozent fast doppelt so stark wie im Durchschnitt. Aber auch im Handel ist der Zuwachs höher als allgemein mit einem Plus von 13,8 Prozent, bedingt vor allem durch die anhaltende Kaufzurückhaltung und den intensiven Wettbewerb im Online-Handel, wie Creditreform berichtet. Im Baugewerbe wiederum fiel die Zunahme mit 1,7 Prozent diesmal vergleichsweise gering aus. Trotzdem liegt die Insolvenzquote in diesem Segment nun auf einem Zehn-Jahres-Hoch. Genau wie im Dienstleistungssektor, der in den ersten sechs Monaten neun Prozent mehr Pleitefälle zu verkraften hatte und mit einem Anteil von 58,5 Prozent weiterhin den größten Teil der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland ausmacht.
Das verarbeitende Gewerbe liegt am anderen Ende der Skala und hat unter den vier Hauptwirtschaftsbereichen bislang den geringsten Anteil. Die aktuell hohe Dynamik in diesem Segment dürfte aber weiter anhalten in den kommenden Monaten, fürchten Experten. Hintergrund ist die zunehmend angespannte Lage in Branchen wie dem Maschinenbau und vor allem der Automobilindustrie und deren Zulieferern, die Creditreform in seinem Halbjahresbericht gesondert beleuchtet hat.
„Die Branche kämpft derzeit mit schwacher Nachfrage, steigenden Energie- und Rohstoffkosten sowie erschwertem Zugang zur Finanzierung“, berichtet Experte Hantzsch. „Vor allem mittelständische Zulieferer geraten zunehmend unter Druck, aber auch größere Unternehmen sind betroffen.“ Die künftige Wettbewerbsfähigkeit hänge nun maßgeblich davon ab, wie erfolgreich der Transformationsprozess hin zur Elektromobilität und Digitalisierung bewältigt wird. „Aktuell ist die Branche stark durch Unsicherheit, Konsolidierung und erheblichen Anpassungsdruck geprägt“, so Hantzsch.
Zu dieser Einschätzung passt auch eine aktuelle Studie des Kreditversicherers Atradius. Prognostiziert werden darin weitere Stellenstreichungen, Werksschließungen, Produktionsverlagerungen und sinkende Gewinne der Hersteller und Zulieferer aufgrund zu hoher Kapazitäten, zu niedriger Nachfrage und dem Damoklesschwert US-Zölle. „Deutschlands Autobranche hat die Talsohle noch nicht erreicht“, sagt Atradius-Risikomanager Jens Stobbe. Sowohl für 2025 als auch für 2026 sagt der Experte ein neuerliches Produktionsminus für die Branche voraus. „Noch können sich die Hersteller diese Schwächephase durch das in der Vergangenheit aufgebaute finanziellen Polster leisten, doch die Luft wird dünner.“
Vier-Tage-Wochen und Gehaltsverzicht seien vor diesem Hintergrund lediglich Überbrückungshilfen. „Tatsächlich müsste sich die deutsche Automobilindustrie neu erfinden oder zumindest einer Schlankheitskur unterziehen. Denn in vielen Werken laufen deutlich weniger als die mögliche Produktionsmenge vom Band – eigentlich besteht die Notwendigkeit zu drastischen Einschnitten wie Werksschließungen, um profitabel zu sein.“ Die Zulieferer trifft das schon jetzt, wie Atradius beobachtet. Jedenfalls meldet der Kreditversicherer „sinkende Margen und zunehmende Zahlungsverzögerungen sowie Insolvenzen in wichtigen Märkten wie Deutschland, Italien und Großbritannien“.
Erste Unternehmen aus der Branche richten nun bereits ihr Lieferantenmanagement neu aus, darunter ZF Friedrichshafen. Beim Branchenriesen rückt neben dem Preis rücken mittlerweile Bonität und Stabilität von Partnern stärker in den Fokus, berichtet Dieter Schorr, der das Risikomanagement bei ZF verantwortet, gegenüber dem Insolvenzreport der Beratungsgesellschaft Falkensteg. „Gerät ein Lieferant in die Krise, werden Maßnahmen bewertet, um die Lieferketten an die OEMs aufrechtzuerhalten, etwa durch Preiserhöhungen oder anteilige Verlustausgleiche.“ Gestützt werden Lieferanten aber nicht mehr um jeden Preis: „Entscheidend ist der Mut, im Einzelfall eine Insolvenz zuzulassen, anstatt einen Lieferanten klassisch zu stützen.“
Die Falkensteg-Experten sehen wie auch Creditreform eine anhaltend schwierige Zeit bevor mit weiter steigenden Insolvenzzahlen im Bereich Automotive, aber auch in der Wirtschaft insgesamt. „Eine Trendwende ist nicht in Sicht“, glaubt Falkensteg-Partner Jonas Eckhardt. 2025 könne das vierte Jahr in Folge mit steigenden Unternehmenspleiten werden. Im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie drohe sogar mehr als eine Verdopplung der Zahlen.
Und einen Neuanfang durch Insolvenz schaffen zuletzt immer weniger Firmen, zeigen Falkensteg-Zahlen. „Der Strukturwandel und die Konjunkturflaute insbesondere in den Schlüsselbranchen forcieren den Negativtrend bei den Verfahrensausgängen“, erklärt Restrukturierungsexperte Eckhardt. Darüber hinaus schwindet seit mehr als einem halben Jahr die Bereitschaft der Gläubiger, Sanierungen über Insolvenzpläne zuzustimmen, oder von Investoren, in Krisenunternehmen einzusteigen. „Die deutsche Wirtschaft bleibt im Krisenmodus, denn die Entwicklung zeigt die angespannte wirtschaftliche Lage. Immer mehr Unternehmen droht das endgültige Aus.“
Carsten Dierig ist Wirtschaftsredakteur in Düsseldorf. Er berichtet über Handel und Konsumgüter, Maschinenbau und die Stahlindustrie sowie Mittelstandsunternehmen.
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