„Haushaltsüberwachung in Deutschland dysfunktional“ – das Ringen um die Staatsfinanzen
Deutschland fehlt seit zwei Jahren eine Kontrolle, wenn es um die Folgen der Ausgabenpolitik des Staates geht. Zu dieser Einschätzung kommt der mit Wissenschaftlern besetzte unabhängige Beirat des Stabilitätsrats von Bund und Ländern. Seit dem Jahr 2023 sei die „Haushaltsüberwachung in Deutschland dysfunktional“, reklamierte der Vorsitzende Thiess Büttner von der Universität Erlangen-Nürnberg.
Die Kritik des Beirats geht an die Finanzminister von Bund und Ländern. Sie kommen im Stabilitätsrat jedes halbe Jahr zusammen, um unabhängig vom aktuellen Gerangel um Steuereinnahmen und neue Schulden zu schauen, ob die Planung der Haushalte von Bund, Ländern, Kommunen und auch der Sozialversicherungen auf Dauer tragfähig sind – um rechtzeitig Alarm schlagen zu können, falls eine Haushaltsnotlage droht. Doch dafür fehlten seit zwei Jahren belastbare Zahlen zu erwarteten Staatsdefiziten und Schuldenquoten, so Büttner.
Warnen vor zu vielen Schulden will in der Politik derzeit allerdings ohnehin niemand. „Entscheidend ist, dass wir jetzt die Wirtschaft ankurbeln und Arbeitsplätze sichern“, sagte Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) nach der Sitzung des Stabilitätsrats. „Wir sorgen deshalb für massive private und öffentliche Investitionen. Wir schaffen mit Strukturreformen gute Rahmenbedingungen für die Wirtschaft: mit niedrigeren Energiepreisen, weniger Bürokratie, mehr Fachkräften.“
Mehr Wachstum ist unerlässlich
Für mehr öffentliche Investitionen hat sich die schwarz-rote Bundesregierung noch vom alten Bundestag einen gewaltigen Schuldentopf hinstellen lassen. Von dem sollen auch Länder und Kommunen profitieren. Das geschaffene Sondervermögen für die Infrastruktur und die weitgehende Ausnahme der Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse begrüßte der Stabilitätsrat denn auch ausdrücklich. Dies könne einen erheblichen Beitrag „zur Stimulierung des Wachstums“ leisten. Mehr Wachstum sei für eine tragfähige Finanzpolitik unerlässlich.
Erst die Schulden, dann die Stabilität, lautet die für Deutschland ungewohnte Reihenfolge. Wobei Klingbeil durchaus deutlich machte, dass auch in dem noch fehlenden Bundeshaushalt 2025 und dem für 2026, trotz der gewaltigen neuen Schuldenoptionen nicht alles geht. Bis zum Wochenende möchte er die Verhandlungen mit seinen Ministerkollegen darüber abschließen, wie viel jedes Ressort ausgeben darf.
Man werde die öffentlichen Finanzen weiter konsolidieren, sagte der SPD-Vorsitzende. „Mit klaren Sparvorgaben, mit einem strikten Finanzierungsvorbehalt für jedes Vorhaben und einer umfassenden Überprüfung staatlicher Aufgaben auf ihre Notwendigkeit.“ Übernächste Woche, wenn das Kabinett das Zahlenwerk für 2025 und die Eckwerte für 2026 verabschieden will, wird man sehen, was er damit genau meinte.
Grenzen setzt der Politik weniger die ausgehöhlte deutsche Schuldenbremse als vielmehr der erst im Vorjahr reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt der Europäischen Union, so die Erwartung des Stabilitätsrats. Die „hinzugewonnen nationalen fiskalischen Spielräume stehen in einem Spannungsverhältnis zu den Anforderungen der europäischen Fiskalregeln“, hieß es. Die Einhaltung der europäischen Fiskalregeln dürfe deshalb „in naher Zukunft mit Anstrengungen auf allen staatlichen Ebenen verbunden sein“. Die EU wird Deutschland, wie anderen Ländern auch, einen Ausgabenpfad vorgeben.
Wobei sich auch hier wieder die Frage der Überwachung stellt. Kritiker verweisen auf einen großen Ermessensspielraum der EU-Kommission. Die erste Ausnahme hat Deutschland bereits beantragt. Für die Verteidigungsausgaben soll die nationale Ausweichklausel aktiviert werden. Dadurch engen die zusätzlichen Verteidigungsausgaben die Politik bei anderen Ausgaben schon mal nicht ein.
Schluss mit dem „Regelchaos“?
Auch bei der nationalen Schuldenregel strebt Schwarz-Rot weitere Lockerungen an. So ist es im Koalitionsvertrag vereinbart. Schon bald soll eine Expertenkommission eingesetzt werden, die einen Vorschlag für eine „Modernisierung der Schuldenbremse“ entwickelt. Umgesetzt werden sollen diese Vorschläge dann zügig bis Ende 2025.
Die SPD-nahe Denkfabrik Dezernat Zukunft veröffentlichte fünf Vorschläge für eine Reform der Schuldenbremse. „Mehr Geld steht dabei erstmal nicht mehr im Fokus. Denn das Fiskalpaket hat Fakten geschaffen: 500 Milliarden Euro stehen bis 2036 für Investitionen bereit; Geld für Verteidigung gibt es praktisch unbegrenzt“, heißt es direkt zu Beginn des Papiers. Es klingt, als wolle man CDU und CSU beruhigen, dass eine Reform der Schuldenbremse nicht automatisch bedeutet, dass das Instrument seine Bremswirkung vollends verliert.
Aus Sicht der Autoren geht es darum, „Deutschland vom fiskalpolitischen Regelchaos zu befreien und zum tatsächlichen Anker für nachhaltige Staatsfinanzen in Europa zu machen“. Dafür müsse der deutsche Regelrahmen kompatibel mit der europäischen Schuldenregel gemacht werden. Ihnen schwebt eine einfache Lösung vor: „Die deutsche Regel im Grundgesetz besteht in der Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts“. Die Notlagenregel soll zudem so überarbeitet werden, dass die Notlage als Dauerzustand und nicht länger als „außergewöhnliche Notsituation“, wie es in Artikel 109 des Grundgesetzes bislang noch heißt, definiert werden kann.
Kritiker glauben den Beschwichtigungen der Reformbefürworter denn auch nicht. Sie sehen ein Einfallstor für noch mehr Schulden. „Meines Erachtens sollte die Schuldenbremse nicht weiter gelockert werden“, sagte Lars Feld, Leiter des Walter Eucken Instituts in Freiburg und während der Ampel-Zeit persönlicher Berater des damaligen Finanzministers Christian Lindner (FDP). Er würde sie eher wieder verschärfen. „Ich würde zu einem späteren Zeitpunkt die Generalausnahme für die Verteidigungsausgaben wieder zurücknehmen“, sagte er.
Grundsätzlich hat sich aus Felds Sicht an der Ausgangssituation nichts geändert: Die Staatsschuldenquoten in den Industrieländern müssten sinken, damit diese wieder Spielräume erringen, um exogene Schocks effektiv zu bekämpfen. „In Krisen kann die Staatsverschuldung sehr sprunghaft ansteigen und ebenso sprunghafte Reaktionen der Finanzmärkte hervorrufen. Dafür muss die Fiskalpolitik vorbereitet sein. Auch die deutsche“, sagte er.
Wie sich die Ausnahmen der Grundgesetzänderungen aus dem März auf die gesamtstaatliche Schuldenquote auswirken, vermag die Bundesregierung bisher nicht zu sagen. Ohne die neuen Verschuldungsmöglichkeiten ging sie für 2025 von einer beruhigenden Quote von 62,75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Sie hätte nur knapp über dem berühmten Maastricht-Kriterium von 60 Prozent gelegen. Wie viele Schulden in diesem und vor allem in den nächsten Jahren hinzukommen, bleibt abzuwarten.
Karsten Seibel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet unter anderem über Haushalts- und Steuerpolitik.
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