"An sonnigen Feiertagen betreiben wir das Stromnetz am Limit"
Der Mai war eine einzige Hellbrise: An vielen Tagen haben Windparks und Solaranlagen deutlich mehr Energie erzeugt, als benötigt wurde. Das freut Verbraucher, denn sie bekommen Strom immer häufiger "geschenkt". Für Netzbetreiber ist das Überangebot dagegen eine genauso große Herausforderung wie eine Dunkelflaute: "Wir müssen Verbrauch und Angebot in jeder Sekunde ausbalancieren", sagt Werner Götz. "Das ist bei dieser Volatilität nicht einfach." Im "Klima-Labor" von ntv fordert der Chef des baden-württembergischen Übertragungsnetzbetreibers TransnetBW: Der Ausbau von Erneuerbaren und des Stromnetzes muss künftig besser synchronisiert werden. Götz pocht auch auf neue Spielregeln für den Netzbetrieb - bevor die Leitungen glühen.
ntv.de: Im Mai waren die Preise an der Strombörse mehr als 120 Stunden negativ. Im gesamten Jahr gab es bereits 248 Stunden unter null - so viele wie noch nie. Wer bereits ein Smart Meter und einen flexiblen Tarif hat, bekommt den Strom immer häufiger "geschenkt". Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht?
Werner Götz: Für Verbraucher ist das gut und für Deutschland wahrscheinlich auch, weil es zeigt: Wir kommen beim Ausbau der erneuerbaren Energien voran. Die Marktsysteme funktionieren. Perspektivisch müssen diese Systeme aber an die neuen Erzeugungs- und Verbrauchskonditionen angepasst werden. Als Übertragungsnetzbetreiber können wir einige Aufgaben für die Zukunft ableiten.
Für Solar- und Windparks ist diese Entwicklung aber nicht gut. Je häufiger der Börsenstrompreis ins Minus rutscht, desto weniger Geld verdienen die Betreiber.
Wer einen Photovoltaikpark bauen möchte, muss schauen, ob sich die Investition amortisiert: Welche Marktpreise sind zu erwarten? Angesichts der negativen Preise sollte der Betreiber den PV-Park mit einer Batteriespeicheranlage ausrüsten. Dann kann er den Strom einspeisen, wenn die Marktpreise attraktiv sind. Das hilft auch uns Netzbetreibern, weil es zu einer gleichmäßigen Einspeisung beiträgt.
Sind diese Extreme gewollt? Soll Strom an der Börse auch in Zukunft in einer Dunkelflaute 800 Euro pro Megawattstunde kosten und der Preis bei einer Hellbrise - das Gegenstück, das etwa an sonnigen Feiertagen
im Mai auftritt - auf minus 250 Euro fallen? Oder haben die Strompreise nach der Energiewende eine gesunde Balance, sind also hoffentlich gleichmäßig niedrig?
Das hängt von der Perspektive ab: Wenn Sie einen Batteriespeicher betreiben, freuen Sie sich über diese Spreads. Dieses Geschäft basiert auf der Differenz zwischen hohen und niedrigen Preisen. Wir als Netzbetreiber müssen Verbrauch und Angebot in jeder Sekunde ausbalancieren. Das ist bei dieser Volatilität nicht ganz einfach. Verbraucher wünschen sich wahrscheinlich auch eine gleichmäßigere Verteilung.
Dieser Ausgleich ist für TransnetBW und andere Netzbetreiber die große Herausforderung?
Ja. Das Netz selbst kann keinen Strom speichern, sondern nur örtliche Unterschiede ausgleichen. In Deutschland sind es aktuell hauptsächlich geografische Differenzen: Durch die Windkraft wird viel Strom im Norden eingespeist. Der große Verbrauch befindet sich durch die Industrie im Süden. Netzbetreiber müssen auf nationaler, aber auch europäischer Ebene den Ausgleich bewerkstelligen. Daran muss die Infrastruktur angepasst werden, denn der Bestand ist bereits in den 60er- und 70er-Jahren gebaut worden für eine komplett andere Erzeugungstopografie.
Funktioniert die Infrastruktur noch reibungslos oder ist sie mit dieser Aufgabe überfordert?
In Hellbrisen oder Dunkelflauten kommt sie an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. In diesen Fällen betreiben wir das Netz am Limit. Wenn diese Situationen beherrschbar bleiben sollen, benötigen wir regulatorische Eingriffe, also andere Spielregeln. Außerdem muss das Netz ausgebaut und erweitert werden.
Europaweit oder speziell in Deutschland auf der berühmten Nord-Süd-Trasse?
Das europäische Netz ist bereits hoch vernetzt, 42 Übertragungsnetzbetreiber sind angeschlossen. Perspektivisch muss der Grad der Vermaschtheit und der Transportkapazitäten weiter steigen. Das hat eine stabilisierende Wirkung. Unsere Studien sagen aber auch, dass wir mit einem besser ausgebauten Netz 18 Milliarden Euro im Jahr einsparen könnten. Diese Summe zeigt: Der Netzausbau rentiert sich volkswirtschaftlich.
Zuerst muss man aber eine große Summe in das Netz investieren …
Ja. Wir erwarten einen Bedarf von rund 300 Milliarden Euro. Aber ins deutsche Netz muss ohnehin investiert werden, um den Strom vom Norden in den Süden leiten zu können. Die Einsparung von 18 Milliarden Euro ergibt sich zusätzlich durch die bessere Anbindung internationaler Kuppelstellen.
Der Netzausbau sorgt gleichzeitig für eine europaweit zuverlässige Stromversorgung und niedrige Preise?
Exakt.
Speziell der Ausbau der Solarenergie hat unter der Ampel enorm angezogen. Ist das in dieser Form weiterhin notwendig oder sollten wir uns vorerst auf den Netzausbau konzentrieren, wenn das bereits an der Leistungsgrenze arbeitet?
Die entscheidende Frage ist: Wie können wir den Ausbau der Erneuerbaren besser mit dem Ausbau des Netzes synchronisieren? Das lief in der Vergangenheit nicht optimal und trägt zum Grenzbetrieb bei. Zu viel erneuerbare Energie haben wir nicht. Deutschland soll 2045 klimaneutral sein. Das setzt große Erzeugungskapazitäten voraus.
Es ist bessere Synchronisation gemeint, wenn Sie sagen: Wir müssen die Spielregeln ändern.
Spielregeln kann man breit interpretieren. Im Fall der Hellbrise haben wir mehr Energie, als wir benötigen. Der deutsche Spitzenverbrauch liegt im Winter ungefähr bei 80 Gigawatt. An Pfingsten sind die Fabriken zu, deshalb sinkt er auf 30 Gigawatt. Scheint dann auch noch die Sonne, erreicht die PV-Einspeisung ihr Maximum, denn es sind bereits 100 Gigawatt installiert.
Nur Solaranlagen? Wind und alles andere benötigen wir an Feiertagen theoretisch gar nicht?
Richtig. Diese Differenz muss ich technisch beherrschen. Man kann den Strom in europäische Gebiete abtransportieren, wenn er dort benötigt wird. Steigen die Erzeugungskapazitäten weiter und der Strom kann nicht abtransportiert werden, muss man die Solaranlagen abregeln, im Grenzfall also darauf zugreifen können.
Das passiert bei der Windkraft regelmäßig?
Das war im Solarbereich bisher nur bei Anlagen mit mehr als 100 Kilowatt Leistung möglich. Am 25. Januar wurde der Zugriff durch das Solarspitzengesetz auf Anlagen bis 7,5 Kilowatt erweitert. Für neu installierte Solaranlagen entfällt zudem die Einspeisevergütung bei negativen Strompreisen. Das sind sinnvolle Veränderungen der Spielregeln.
Erst wird versucht, überschüssigen Strom ins Ausland zu leiten, und wenn das nicht klappt, werden die Solaranlagen abgestöpselt?
Der Strom wird an einer Börse gehandelt. Das Handelsergebnis wird uns 24 Stunden im Vorlauf mitgeteilt. Wir wissen damit, an welcher Stelle tags darauf wie viel Energie erzeugt und verbraucht wird. Das ist der Dispatch. Mit diesen Daten führen wir Sicherheitsberechnungen durch. Damit werden Transportengpässe im Netz transparent, die wir durch Eingriffe in den Markt auflösen: Erzeugung wird an bestimmten Stellen abgeriegelt oder blockiert und an anderen Stellen ermöglicht. Das ist der Redispatch.
Weil es ansonsten zu einem Stau in den Stromleitungen kommt, dem sogenannten Solarinfarkt. Der kann schlimmstenfalls einen Stromausfall verursachen?
Bildlich gesprochen, passiert Folgendes: Wenn man das Netz über seine Stromtragfähigkeit hinaus betreibt, wird es thermisch überlastet. Die Leitungen beginnen zu glühen. Schutzabschaltungen sind notwendig. Das bedeutet aber nicht, dass es automatisch einen "Brownout" oder BBlackout" gibt.
Wie groß ist das Risiko dafür, dass so etwas in Deutschland passiert?
Dadurch, dass wir 24 Stunden im Vorfeld wissen, wo was erzeugt und wo was benötigt wird und alle Übertragungsnetzbetreiber europaweit engmaschig Sicherheitsberechnungen durchführen, besteht kein Risiko, in einen ungeplanten Problemfall zu kommen.
Aber was passiert, wenn das Wetter doch ganz anders ist als vorhergesagt?
Die Erzeuger, die Händler und auch wir arbeiten mit Wetterprognosen. Manchmal gibt es Abweichungen. Für diesen Fall stellen wir Reserven bereit: Allein TransnetBW hat rund 300 Verträge mit Marktpartnern. Das sind Erzeugungsanlagen, aber auch Verbraucher, mit denen wir flexibel auf Schwankungen reagieren können. Wir wissen ja nicht, wann Sie zu Hause den Lichtschalter betätigen.
Bei den Partnern handelt es sich um die Betreiber von Gaskraftwerken?
Das sind im Wesentlichen Betreiber von Kohle- oder Gaskraftwerken - konventionelle Erzeugung, die für uns steuerbar ist.
Ist es schwieriger, eine Hellbrise auszugleichen oder eine Dunkelflaute?
Die Mechanismen sind dieselben: Verbrauch und Erzeugung müssen zu jeder Sekunde im Gleichgewicht gehalten werden. Ist das nicht der Fall, steuern wir gegen und erhöhen oder reduzieren Stromerzeugung oder Stromverbrauch.
Mit Werner Götz sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im Podcast "Klima-Labor" anhören.
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