Sind Faultiere die besseren Menschen?
Einmal in der Woche wird es lebensgefährlich. Dann, wenn sie aufs Klo müssen. Dazu steigen Faultiere von ihren Bäumen hinunter. Schön langsam. Für hundert Meter brauchen sie eine halbe Stunde. Flüchten geht also schlecht, wenn Feinde auftauchen. Und kämpfen in Zeitlupe ist auch schwierig. Gegen einen Puma helfen auch die Krallen an den Fingern wenig. Für Faultiere bedeutet jeder Gang zur Toilette also eine Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit: Pooping on the Edge.

Den restlichen Teil der Woche verbringen Faultiere friedlich auf ihren Bäumen und schlafen bis zu zwanzig Stunden pro Tag. Faultiere sind aber nicht faul, sondern Meister im Energiesparen. Ihr Stoffwechsel gehört zu den langsamsten der Tierwelt. Oft brauchen sie mehrere Wochen, um die nährstoffarmen Blätter der Bäume zu verdauen.
Faultiere sind nicht faul. Sie sind Meister im Energiesparen.
Ich hatte kürzlich das Vergnügen, ein Faultier dabei zu beobachten, wie es eine Strasse überquerte. Wir waren mit dem Auto in Costa Rica unterwegs. Auf einmal standen alle Autos still, die Menschen stiegen aus und liefen nach vorne. Auch wir. Und tatsächlich: Da schleppte sich ein Faultier mühsam über die Strasse, um auf die andere Seite zu kommen. Rundherum standen Menschen, um das Spektakel bildlich festzuhalten. Auch wir.

Bisher hatte ich nur Faultiere auf Bäumen gesehen, wie sie schlafen, sich langsam von Ast zu Ast hangeln und mit ihrem Kopf, den sie um 330 Grad drehen können, nach Blättern suchen. Meist sah ich von unten nur ein Büschel Fell, in dem übrigens auch kleine Käfer leben und Grünalgen wachsen, was den Faultieren als Tarnung und als Nahrungsergänzung dient. Ihr Lebensmotto scheint also zu sein: Jage nicht, sondern lasse das Essen zu dir kommen. Food Delivery, aber nachhaltig.
Faultiere kennen keine FOMO.
Man soll Tiere nicht vermenschlichen, ich tue es aber trotzdem und antworte auf die Frage, welches Tier ich gerne in den Urlaub mitnehmen möchte: das Faultier. Denn die Tiere leben in vielfacher Hinsicht ein für uns Menschen vorbildhaftes Leben. Faultiere kennen keine FOMO. Sie leben genügsam, nachhaltig und resilient.

Seit 30 Millionen Jahren haben sie ihre Bedürfnisse an ihre Umgebung angepasst: Sie wollen das, was sie haben. Bei uns Menschen ist es umgekehrt: Wir wollen das, was wir nicht haben, so lange, bis unsere Welt kaputt ist und wir gar nichts mehr haben.
Slow Living ist der Ausweg aus der alltäglichen Entfremdung.
Faultiere müssen aufgrund des langsamen Stoffwechsels das tun, was für uns Menschen das Gebot der Stunde wäre: Slow Living. Ein achtsames, langsames Leben. Mit Pausen zur Regeneration. Nicht durch den Alltag hetzen, sondern den Dingen Zeit lassen. Denn jede Tätigkeit hat ihr eigenes Tempo – eine «Eigenzeit», wie alle Prozesse in der Natur, vom Wachsen einer Pflanze bis zur Kompostierung.
Oder wie Rituale: Wer eine japanische Teezeremonie beschleunigen möchte, der hat die Idee des Rituals nicht verstanden. Erst durch Langsamkeit treten wir in Beziehung zu unserer Umgebung. Resonanz entsteht. Auf einmal hat die Welt wieder etwas mit mir zu tun. Das Gefühl der Entfremdung verschwindet.
Darin besteht das Glücksversprechen des Faultier-Daseins. Ein Leben wie im Paradies. Wäre da nicht der wöchentliche Gang zur Toilette.
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