Wir schreiben das Jahr 1976. Jimmy Carter schickt sich an, Präsident der USA zu werden. In Steve Jobs Elternhaus wird die Firma Apple gegründet. Silvester Stallones Boxer-Drama «Rocky» feiert Premiere. Und die ganze Welt bekommt ABBAs «Money Money Money» nicht mehr aus dem Ohr.

Ohrwurm von früher

Oder «Dancing Queen». Oder «Fernando». Oder «Knowing Me, Knowing You». Egal, einen der vielen Ohrwürmer halt, die ABBA im Jahr 1976 veröffentlicht haben.

Schnell im Ohr, schnell geteilt

Es liegt im Wesen eines Ohrwurmes, dass uns nur ein Teil des ganzen Songs im Ohr bleibt. Meist ist es der Refrain – «Money Money Money» eben oder «Knowing Me, Knowing You».

Ohrwurm von heute

Doch beim modernen Ohrwurm sind diese erinnerten Stellen viel kürzer geworden. Kein Refrain mehr, sondern oft nur ein paar bedeutungslose Wörter – oder ein einzelner, einprägsamer Sound.

Wer jemals ein TikTok-Video gesehen hat, kennt das Phänomen: Es sind kurze Hinhörer, die für Aufmerksamkeit sorgen und vom Klang her an einen Nachrichten-Ton auf dem Handy erinnern. Kurze Stellen, die sich ebenso leicht online teilen lassen wie sie sich hartnäckig im Ohr festsetzen.

Internet macht Ohrwurm neu

Wenn sich immer mehr unseres Lebens in die Online-Welt verlagert, sollte es nicht erstaunen, dass das Internet auch einen Einfluss darauf hat, was ein Ohrwurm ist. Schliesslich hören wir neue Musik kaum mehr zuerst im Plattengeschäft oder am Radio, sondern bei Spotify oder TikTok.

Dass solche Plattformen verändern, wie Musik klingt, ist keine neue Erkenntnis. Heute sind Songs von der ersten Sekunde an auf Aufmerksamkeit getrimmt. Wer nicht will, dass sein Titel beim Streamen übersprungen wird, setzt schon in den ersten Sekunden auf akustischen Overkill.

Besondere Momente ohne Authentizität

Solche kurzen Stellen haben schon früher oft den eigentlichen Reiz eines Stücks ausgemacht. Der deutsche Musiktheoretiker Diedrich Diederichsen spricht dabei von «indexikalischen Sound-Objekten», von Geräuschen und Soundeffekten als zentralen Elementen eines Songs.

Ohrwurm mit Klingelton

Doch Diederichsen meint damit Elemente, die nicht geplant oder gewollt sind, sondern als unfreiwillige Spuren von Authentizität funktionieren – das Brechen einer Stimme zum Beispiel. Die besonderen Momente eines modernen Ohrwurms verweisen dagegen auf nichts Authentisches mehr. Sie sind so bewusst gesetzt und so künstlich wie der Ton, der auf dem Smartphone eine neue SMS ankündigt.

Vom «Crazy Frog» zu «Skibidi Toilet»

So ein Ohrwurm funktioniert nicht wie ein Song, sondern eher wie ein Klingelton: Er ist ein Geräusch, das uns aufhören lässt und (zu) lange im Ohr bleibt. Diese neuen Ohrwürmer klingen oft kaum anders als ein Klingelton: sei es der schauerliche «Crazy Frog» oder das fröhliche «Brrr Skibidi Dop Dop Dop Yes Yes» der «Skibidi Toilet»-Videos auf YouTube.

Im besten Fall kommt dabei etwas heraus wie PinkPantheress’ «Boy’s a Liar Pt. 2». Ein kurzer, eingängiger Popsong, bei dem im Hintergrund ein Klingelton zu hören scheint und dessen von Ice Spice gerappter Teil sich ideal als Hintergrund für ein TikTok-Video eignet.

Der Ohrwurm hat sich vom Refrain zum Reizobjekt verwandelt – vom Mitsing-Hit zum akustischen Signal. Wo früher Melodien Erinnerungen weckten, reichen heute wenige Silben oder Töne, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Zugespitzt gesagt: Der moderne Ohrwurm ist kein Lied mehr, er ist ein Impuls.

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