Unser Streben nach Schönheit ist ausser Kontrolle geraten
Unser Alltag ist voller Gesichter – das eigene Antlitz, der Blick aufs Gegenüber, und all die Instagram-Gesichter, die uns oft schon vor dem Aufstehen begegnen. «Noch nie haben wir uns so häufig und so lange selbst beobachtet, im analogen Spiegel, durch digitale Kameras», schreibt die Journalistin Rabea Weihser in ihrem kürzlich erschienenem Buch «Wie wir so schön wurden».

Das «Wie» ist heute keine grosse Sache mehr: Mit etwas Geld in der Tasche lässt sich das naturgewachsene Gesicht überpinseln und aufspritzen. Oder mit ein paar Klicks ganz einfach kostenlos glatt retuschieren.
Es gibt immer mehr technische Mittel, sich dem Traumgesicht anzunähern. Man kann das Freiheit nennen oder auch Wahrnehmungsverschiebung. Haben wir überhaupt noch einen gesunden Zugang zu individueller Schönheit?: «Es entsteht gerade ein gesellschaftliches Klima, in dem eigentlich niemand mehr unbearbeitet sein darf», erzählt Weihser im Gespräch.
Der männliche Blick – er war nie weg
In einer US-amerikanisch geprägten Welt kommt heute eigentlich niemand mehr ohne «aesthetic labour» aus, wie die Schönheitsmassnahmen im englischen Diskurs heissen. Vor allem Frauen trainieren, perforieren, wachsen, färben, spritzen sich. Der Ausdruck bemisst laut Weihser die «Ressourcen, die Frauen im Patriarchat gezwungenermassen aufs Sich-schön-Machen verwenden». Sie zeigt in ihrem Buch, wie ein männlicher Blick immer noch das Diktat weiblicher Körperarbeit ist.
Am besten veranschaulichen lässt sich das derzeit am «Mar-a-Lago-Face» der Trump-Ära, benannt nach dessen Anwesen in Florida. Der amerikanische Präsident, selbst ein mutmasslicher Freund von Haarimplantaten und Selbstbräuner, scheint sich nur noch mit Frauen mit dramatisch bearbeiteten Gesichtern und ausgeprägter Weiblichkeit zu umgeben.
Trumps Pressesprecherin Karoline Leavitt schürzt gerne die glänzenden Lippen vor der Kamera. Die Podcast-Moderatorin Natalie Winters vermarktet sich mit kurzen Röcken und tiefem Ausschnitt bewusst als «White-House-Barbie». «Ich denke, dass Körperdiversität derzeit abnimmt. Das hat sicherlich etwas mit dem Erstarken konservativer Weltbilder zu tun», sagt Weihser im Gespräch.
Das Gesicht des 21. Jahrhunderts
Weihsers Streifzug durch kulturgeschichtliche Betrachtungen des Gesichts helfen, die gegenwärtige Beautyobsession besser zu begreifen. Denn die Sehnsucht nach einem schönen Gesicht ist bereits Jahrtausende alt. Sie folgt laut Weihser biologischen Mustern und kulturellen Moden.
Das Streben nach einem harmonischen Ebenbild lässt einerseits evolutionsbiologische Rückschlüsse zu: Ein glattes, symmetrisches Gesicht signalisiert Gesundheit und Fruchtbarkeit, fördert den «Arterhalt». Andererseits hat sich über die Epochen hinweg der goldene Schnitt der alten Griechen, eine errechnete Symmetrie, als Mass aller Schönheitskulturen etabliert. Gepudertes Haar (18. Jh.), die Blässe des Schwindsucht-Chic (19. Jh.) oder domestizierte Brauen (20. Jh.) waren hingegen nur kurzweilige Beautytrends.

Das derzeitige Trendgesicht ist auch dem Zeitalter des «Instagram Face» geschuldet. In ihrem Essay zeigt die US-amerikanische Autorin Jia Tolentino, wie digitale Fotofilter und ästhetische Chirurgie ein «Instagram-Gesicht» erschaffen, das Millionen Frauen nachbilden wollen: ein junges Gesicht mit porenloser, gebräunter Haut, hohen Wangenknochen, katzenartigen Augen, cartoonhaften Wimpern, einer Stupsnase und vollen Lippen.
In ihrer Beschreibung legt Tolentino auch eine rassistische Färbung offen, denn das perfekte Gesicht ist vor allem weiss, mit unterschiedlichen ethnischen Merkmalen. Doch wollen wir wirklich alle wie Kim Kardashian und Kendall Jenner aussehen?
Schönheits-OPs nehmen zu
Cynthia Wolfensberger arbeitet seit rund 30 Jahren in der ästhetischen Chirurgie und bestätigt den Trend zur «Glashaut». Sie merkt an: «Die Vorstellung einer porenlosen Haut ist absolut unrealistisch. Sie hätte sonst keine Funktion mehr.» Bereits 20-Jährige wollen bei ihr Lach- und Zornesfalten wegspritzen lassen. Volle Lippen seien nach wie vor angesagt.
In ihrer Zürcher Praxis gibt es Filler gegen Falten und Vampirlifting für ein verjüngtes Gesicht. Cynthia Wolfensberger strafft Augenlider und Hälse, vergrössert Brüste und verkleinert Schamlippen. Die Nachfrage steigt – vor allem bei Jüngeren. Das zeigen auch Schätzungen des Verbands Swiss Plastic Surgery, der von jährlich 90'000 ästhetischen Eingriffen in der Schweiz ausgeht. Im Vergleich dazu waren es 2018 noch etwa 60'000.
In der digitalen Bilderwelt sieht auch Wolfensberger eine Herausforderung für aktuelle Schönheitstrends: «Die Vorstellung der jungen Menschen von dem, was natürlich ist, wird ständig korrumpiert.» Sie stützt Weihsers Befürchtung, dass sich gemachte Gesichter stetig normalisieren und spekuliert, dass Lippenvergrösserungen bald genauso Routine werden, wie die feste Zahnspange, die der breiten Masse ein perfektes Gebiss formt.
Wolfensberger behandelt keine Minderjährigen. Ihr bereiten aber Social-Media-Trends Sorge, wenn sich Influencer zur Hautstraffung selbst Peptide spritzen. Die beworbenen Proteine seien eigentlich ausschliesslich für das Reagenzglas vorgesehen.
Entgegen dieser Marktentgleisung operiert die Chirurgin in ihrer Praxis mit zwei Regeln: Sie legt erstens nur Hand an, wenn sie den Wunsch der Patientin auch selbst nachvollziehen kann. Und zweitens schickt sie Menschen, die in Tränen ausbrechen, mit der Bitte nach Hause, sich weitere Unterstützung zu suchen.
KI-Filter – Geht es noch ohne?
Ein Grund für die zunehmend jüngere Kundschaft in chirurgischen Praxen, ist die Selfie-Kultur, die sich an digitalen Gesichtern orientiert. Einen Boom erfuhr der digitale Schminkkasten diverser Apps während der Corona-Pandemie. Vom Stress gezeichnete Gesichter erschienen bei Zoom und Skype dank digitalen Make-up-Filtern frisch und glatt. Beautyfilter wie der «Bold-Glamour» auf Tiktok funktionieren mittlerweile so gut, dass selbst schnelle Kopfbewegungen seinen Einsatz nicht verraten.
Vor allem eine junge Generation scrollt sich täglich durch attraktive Avatare. Warum nicht mittels KI die Müdigkeit aus unseren Gesichtern verschwinden lassen oder gleich einen fitten Avatar in die Zoom-Sitzung schicken?
Die Frage «Ist das noch echt?» lässt sich im Zeitalter denkender Maschinen immer schwieriger beantworten. Perfekte KI-Gesichter bieten eine Vorlage für einen realen medizinischen Eingriff. Es ist noch gar nicht lange her, da galt «Selbstdesign als eine moralische Verfehlung», schreibt Weihser in ihrem Buch. Eine gemachte Nase war eine absichtliche Verletzung. Sie war keine natürliche mehr.
Wie soll man über Schönheit sprechen?
Mittlerweile versteckt niemand mehr sein persönliches Upgrade: In der Kaffeepause tauschen sich Kolleginnen über den nächsten Botox-Termin aus und die Feministin und Medienstar Sophie Passmann bekennt sich öffentlich zu Hyaluron-Fillern in ihrem jungen Gesicht. Was ist eigentlich so schlimm daran? Abdeckstifte und Rasierapparate hinterfragt auch niemand mehr. Sollte in einer liberalen Gesellschaft nicht jede Art von Selbstentfaltung möglich sein?
Weihser verweist auf die zwei Seiten der Beauty-Kultur: Einerseits koste sie Geld, Zeit und verstärke manchmal noch Gefühle des Ungenügens. Andererseits mache es Spass, könne sinnvolle Selbstfürsorge sein und ermächtige. Kurzum: Es gibt viele Gründe für Schönheitsarbeit. Und jeder Mensch sollte den eigenen Körper selbstverständlich designen, wie es beliebt.
Doch all die gefilterten und gelifteten Gesichter treffen gerade bei jungen Menschen «auf eine sehr verletzliche Psyche und auf einen Wahrnehmungsapparat, der noch in der Entwicklung ist», sagt Weihser am Telefon. In ihrem Buch zitiert sie zahlreiche Studien, die den Zusammenhang zwischen Social-Media-Konsum und negativer Selbstwahrnehmung aufzeigen. Die tägliche Flut optimierter Bilder macht krank.
Lernen, sich abzugrenzen
Wie können wir uns also besser abgrenzen? Während in der digitalen Sphäre KI-Regularien und Förderung von Medienkompetenz ein Schutz sein könnten, befürwortet Weihser im öffentlichen Diskurs über kosmetische Eingriffe eine gewisse Zurückhaltung. «Wer freimütig erklärt, was alles möglich ist, beeinflusst damit sicherlich auch den Veränderungswunsch anderer Personen.»
Weniger «Influenzen» im digitalen wie analogen Leben kann helfen, den digital gesteuerten Schönheitswahn besser zu ignorieren. Denn klar ist: Die Macht digitaler Bilder, der Kosmetikindustrie und männlicher Perspektiven wird bleiben. Was hilft, ist, sie zu erkennen und zu problematisieren. Und wir können versuchen, Gesichter wieder neu zu betrachten. Die kleine Narbe am Kinn, die Lachfalten, die schwungvolle Nase – das Gesicht steckt voller Erinnerungen und Geschichten. Eine ganz eigene Schönheitsquelle.
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